MOment: Rezensionen ohne Rechenschieber (Digitale Spiele allgemein)

MOment: Rezensionen ohne Rechenschieber (Digitale Spiele allgemein)

Computer- und Videospiele haben in nur vierzig Jahren die Entwicklung vom Akademiker-Zeitvertreib zum Massenmedium vollzogen. Kinder haben durch Spiele den Umgang mit Rechnern gelernt, Erwachsene ihre Angst vor Technik verloren. Die Computerspielbranche der USA macht laut Wall Street Journal mehr Gewinn als die US-Filmindustrie. Es ist also höchste Zeit für einen differenzierten Umgang mit dieser neuen <b>Kunstform</b>. Leider leben viele Journalisten und Rezensenten immer noch in der Pac-Man-Ära.

Dumm genug, dass die Berichterstattung über Video- und Computerspiele in den Massenmedien selten über einseitige Betrachtungen hinausgeht. Fachmedien könnten einen wertvollen Beitrag leisten, wären die meisten von ihnen nicht längst zu Hochglanz-Werbebroschüren verkommen. Mit <b>Nerd-Jargon</b> vollgestopfte »Previews« degradieren Spielemagazine zu Bestellkatalogen und Einkaufsführern. Auf der Strecke bleibt nicht nur der Journalismus, sondern vor allem das Spiel selbst.

Der Spielebranche fehlen die kritischen <b>Betrachtungen</b> von außen, die etwa den Film fast von Beginn an begleitet haben. Mit ihrer Hilfe haben kreative, aber unkommerzielle Spielfilme auch heute noch eine kleine Chance im Meer der Blockbuster. Ohne dieses <b>kritische Material</b> werden Spielehersteller noch weniger Interesse haben, von den inzwischen mehr als breitgetretenen Pfaden der Fortsetzungen und schlechten Hollywood-Kopien abzuweichen.

Schlechte Rezensionen, die nicht mehr als bloße Produktempfehlungen sind, gibt es genug. Doch selbst fachlich versierte Artikel sind viel zu oft nur für das <b>Ghetto</b> der Eingeweihten, der Hardcore-Spieler geschrieben. Kritik muss mehr sein als Insiderwissen für Insider.

Spiele werden noch immer nicht als <b>Gesamtwerk</b> begriffen. Sie werden immer noch als Zusammensetzung einzelner Bausteine (Grafik, Sound, Animation usw.) bewertet und nicht als Einheit. Überboten wird diese Zerstückelei nur noch von dümmlichen Prozentbewertungen, die eine mathematische Genauigkeit vorgaukeln, die in einer Rezension völlig unmöglich ist.

Würde man diese Art der Bewertung etwa auf einen Kinofilm übertragen, der technisch gesehen aus vergleichbar vielen Bausteinen besteht, wird die <b>Unprofessionalität</b> deutlich: Herr Der Ringe III - Computeranimation 87% - Schauspielerische Leistung 67% - Musik 78% - Schnitt 88% - Kostüme 91% - Maske 93%. In keiner seriösen Filmrezension aber findet man diese Zerstückelung. Und kein Rezensent könnte seine prozentuale Wertung rechtfertigen.

So etwas erleichtere die Kaufentscheidung, argumentieren Redakteure und Branche unisono. Nein, im Gegenteil: so etwas <b>verblendet</b>. Ein kreatives Medium, dass von Schaffenden, Käufern und Kritikern wirklich ernst genommen wird, kann nicht mehr mit zusammenaddierten Steinzeitwertungen gemessen werden. Wer wissen möchte, wie dem Rezensenten ein Film gefallen hat, liest eben die Rezension. Oder schaut auf die beliebten »3 von 5 Sterne«-Wertungen, die für jeden ersichtlich rein subjektiv vergeben werden und keine objektive Genauigkeit vortäuschen. Und das geht doch sicher auch bei Spielen, liebe Redakteure.

Die <b>Komplexität</b> moderner Spiele ist längst an einem Punkt, an dem detaillierte Wertungspunkte irrelevant geworden sind. Optik und Akustik sind sehr wichtig, wenn sie neue <b>spielerische Möglichkeiten</b> schaffen. Doch einzeln sagen sie über die Gesamtqualität eines Spiels so viel aus wie die verwendete Filmkamera über die eines Spielfilms: gar nichts.

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Besonders in den USA, in Skandinavien und in Japan werden Computerspiele mittlerweile in akademischen Kreisen ernst genommen. In der Branche gibt es sehr intelligente Köpfe, die ihre Erfahrungen in Spieltheorie, -konzeption und -design an andere Entwickler weitergeben. Doch so wichtig diese <b>wissenschaftlichen Ansätze</b> auch sind, sie helfen normalen Spielern genausowenig, wie Literaturwissenschaft den Mallorca-Touristen hilft, wenn sie nach Urlaubsschmökern suchen. Also meine Forderung: Computerspiele gehören ins <b>Feuilleton</b>!

Welche <b>Bedeutung</b> hat das besprochene Spiel in einem sozialen oder künsterlischen Rahmen? Wie erzeugt das Spiel bestimmte <b>Emotionen</b> beim Rezensenten? Welche Tricks wenden die Autoren an, damit Spieler sich in ihren Entscheidungen frei fühlen und dennoch das tun, was sie tun sollen? Wieviel Spaß macht das verdammte Ding auch nach 40 Stunden noch? Oder kurz: was stellt das Spiel im <b>Kopf</b> des Rezensenten an?

Die <b>Herausforderung</b> der feuilletonistischen Herangehensweise besteht darin, sich nicht einfach anderer Disziplinen zu bedienen: ein bisschen Literaturwissenschaft für die Handlung, ein wenig Theaterkritik für die Sprecher, dazu Kunstgeschichte für die Optik. Nein. Computerspiele sind ein eigenständiges Medium, auf das man diese Konzepte nur teilweise anwenden kann. Denn sie sind <b>interaktiv</b>. Nicht die Erzählung oder Hintergrundgeschichte als solche ist wichtig, sondern ihre Auswirkung auf das unmittelbar Gespielte. Ist das Gameplay genauso, wie es die Atmosphäre des Spiels verlangt? Dudelt die Musik nur vor sich hin, oder ist sie essentiell für das Spielerlebnis?

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Wie groß der Einfluss der Video- und Computerspiele geworden ist, sehen wir nicht nur an VIVA-Trailern. Musikprojekte wie <a href="http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/B00004U023/ntropiede-21"; target="_blank">Japanese Telecom</a> oder <a href="http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/B00005KBPR/ntropiede-21"; target="_blank">Little Computer People</a> wären ohne Spiele unmöglich. Also brauchen wir Rezensionen und allgemeine Betrachtungen, die dieser Rolle gerecht werden.

Meine Bitte an Rezensenten, ob Amateur oder Profi: Orientiert euch zur Abwechslung mal an den Filmkritiken von <a href="http://www.salon.com/bc/1999/02/09bc.html"; target="_blank">Pauline Kael</a> (»Lieber unter Niveau amüsiert als über Niveau gelangweilt«). Wagt es, auch millionenfach verkaufte Spiele gnadenlos zu verreißen! Wagt es, wunderbare, aber unbekannte Spiele in den Himmel zu loben! Auch wenn sich Rezensionen hinter objektiven Floskeln verstecken, bleiben sie immer subjektiv. Nutzt genau das aus: schreibt persönlich. Vielleicht steckt man dann einige Prügel ein, doch niemand wird sich beschweren, ein Artikel sei langweilig gewesen. Denn genau dazu sollen Spiele verleiten: sich nicht zu langweilen.

[Eine ältere Version dieses Artikels habe ich in meinem Weblog unter dem Titel <a href="http://www.ntropie.de/archiv/spiele/rezensieren_nicht_punkten.php"; target="_blank">»Rezensieren, nicht punkten«</a> veröffentlicht.]
Eine gewöhnliche Oskar-Verleihung (des hochgepriesenen, wichtigsten Filmpreis überhaupt) läuft für gewöhnlich so ab, dass Liebesfilme und Dramen hoch im Kurs stehen, die wirklichen Blockbuster und Kassenschlager verhältnismäßig wenig abstauben. Ist das Gremium vielleicht einfach zu alt? Anders lassen die Produzenten ihre eigenen Filme bewerten. Sie laden nämlich nur Leute ein, die zur geplanten Zielgruppe gehören. Das ist der Punkt; die Filme werden von erfahrenen, man möchte sagen kompetenten Nerds bewertet. Niemanden interessiert es, was dabei jemand sagt, der nicht zur Zielgruppe gehört, da er keinen besonderen Einfluss auf das Geschehen hat. Ähnlich sollte es doch bei Spielen auch funktionieren. Warum hier aber zu Tabellen und Statistiken gegriffen wird, mag an der Massenhaftigkeit der Spiele liegen. Es gibt viele Spiele gleicher Art, bei denen es sich anbietet, die Spiele deshalb nur als Vergleich gegenüberzustellen, damit man sieht, ob ein Spiel auf einem PC ruckelt, ob es kompatibel mit der Hardware ist uswusf. Ergänzend dazu kann man bei den meisten tabellarischen Bewertungen auf eine Rezension zurückgreifen. Hier liegt eine Schwachstelle und zwar hat man hier mitunter einen Rezensenten, der nicht zur Zielgruppe gehört oder aber nur eine andere Meinung vom Spiel hat, die die tatsächlichen Spieler später nicht mit ihm teilen könn(t)en. Rezensenten sind überbewertete Bewerter, man sollte sich von einem Spiel ein eigenes Urteil bilden können. Denn Rezensionen sind Meinungen, keine Ratschläge. Am aufschlussreichsten finde ich Videosequenzen aus dem Spiel mit eingefügten Erkärungen. Auch gegen die Hardware-Vergleiche ist nichts zu sagen, was aber stört und dem Spiel völlig ungerechtfertigt ist, sind die Bewertungskategorien wie Spielspaß u.ä., die auf eigener Meinung basieren. Man sollte vor allem keine Endauswertung aller Statistiken bringen, die sich aus den Prozentzahlen für Spieldauer, Musik, Preis, Hardwareanforderung etc. zusammensetzt! All solche Punkte sind unabhängig voneinander zu betrachten.
Wen interessiert ein ständiges abschließendes Preis-Leistungsverhältnis zu anderen Spielen, wenn er lieber etwas mehr Geld ausgibt für ein Spiel, das zwar schlecht bewertet wurde, es aber in vielen anderen Kritereien wieder wettmacht? Schließlich kommt es am Ende auf die Mischung aus allem an, die Überzeugung des Spiels! Da kann man einzelnen Zahlen noch so lang hinterherhechten. Schließlich sind immernoch unsere Computer die Computer, nicht wir.
Nun ja ich meine nicht, dass die Artikel in unseren Computerzeitschriften sollen ein zu hohes "Niveau" haben...
Zum Beispiel: "Was ist grün und rennt durch den Wald, nein kein Rudel Gewürzgurken", als Einleitung zu einem Spieletest ist ja nun nicht wirklich Nerd-Jargon ;)

Nun man sollte Spiele generell nur danach bewerten, wie gut es ist, und sagen Warcraft verkauft sich gut also verreiß ich es um zuzeigen, dass ich nicht das mache, was die Masse macht ist sicherlich genauso falsch, wie WarCraft gleich die 100% zugeben, nur weil es von Blizzard kommt.

Und gegen die Zerstückelung hab ich nichts einzuwenden, denn sagen wir ein Spiel ist top in Sachen Grafik und Gameplay hat aber eine absolute miese Sprachausgabe, warum soll ich dann entweder den Sound zugunsten der Grafik vernachlässigen und sagen, das Spiel sei supertoll oder sagen, das Spiel ist schei*e, nur weil der Sound mangelhaft ist?
Die Ursache für den Mangel an subjektiven, "feuilletonistischen" Spiele-Bewertungen liegt nicht zueletzt darin, dass der Markt, bzw. die Zielgruppe dafür zu klein oder gar nicht vorhanden ist. Heutige Spielemagazine sind tatsächlich nur ein Vermarktungsinstrument der Spieleindustrie und haben einfach eine andere Zielgruppe als die Feuilletons namhafter Zeitungen (die sich in den letzten Jahren aber auch alle schon einmal mit Computerspielen beschäftigt haben).

Den (jungen männlichen) Lesern der Spielemagazine reichen die Varianten der Einzelwertungen offenbar, sonst würden sich die Zeitschriften anpassen.

Das Publikum der Feuilletons umfaßt aber verschiedene Altersgruppen und zwei Geschlechter. Mehr als einen gelegentlichen, staunenden Blick auf das bizarre Spieleuniversum verlangt diese Leserschaft nicht. Dafür schätzt sie aber Filme, die hier teils sehr gut geschriebene Kritiken finden.

Ein wesentlicher Grund für die Qualitätsunterschiede zwischen Spiele- und Filmkritiken liegt einfach darin, dass die meisten aktuellen Verkaufsschlager für eine breite Diskussion ihres sozialen oder sonstwas Kontextes zu wenig bis nichts hergeben, von wirklichen Emotionen ganz zu schweigen. Im Gegensatz zum Film, in dem Menschen handeln (selbst wenn sie als Comicfiguren daherkommen oder auf anderen Welten leben), sind bei Spielen Spielwelt, Handlung und Charaktere immer noch viel zu einfach, um eine Identifizierung mit ihren Helden oder gar Emotionen hervorrufen zu können (was für die einzelnen Spielegenres unterschiedlich stark zutrifft). Glaubwürdigkeit und Identifizierung sind aber eine Voraussetzung für anspruchsvollere Spielekritiken.
@ Lee: "Es gibt viele Spiele gleicher Art". Sehr guter Punkt. Wenn sich Spiele nur noch durch die Qualität der verwendeten Grafik-Engine voneinander unterscheiden, sind Game-Designer nicht kreativ genug, um sich "Designer" nennen zu dürfen.

Angaben zur Hardware-Kompatibilität gehören natürlich immer dazu (genau wie Angaben zum Ländercode, Länge usw. bei einer DVD). Ich habe dies nicht explizit erwähnt, da der Text bereits lang genug ist...

Und sicher sind Rezensenten überbewertet. Deswegen sage ich ja, dass sie offen ihre Meinung als *ihre* Meinung vertreten und nicht hinter objektiv klingenden Floskeln und Zahlen verstecken sollen. (Marcel Reich-Ranicki sagt ja auch "ich finde diesen Rrrroman schrrrrecklich laaaaangweilig, einfach grrrauenhaft" und nicht "auf Seite 143 ruckelt die Prosa ein wenig".)

@ Draconis: Natürlich sollte man ein gutes Spiel NICHT verreißen, weil es sich rasend verkauft; aber ein schlechtes, OBWOHL es sich rasend verkauft. Leider stehen hinter den m.E. oft zu hohen Bewertungen in Printmagazinen handfeste wirtschaftliche Interessen...

@ Oliver: "Zielgruppe zu klein". Schon wahr, aber genau die will ich ja durch "breiter" angelegte Texte und Artikel vergrößert sehen.

Emotionen & Identifizierung: Das wäre ein gutes Thema für eine der nächsten Kolumnen :)
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