Kurzerzählung: Der Traum vom tosenden See (Bücher / Autoren-Treffpunkt)

Kurzerzählung: Der Traum vom tosenden See (Bücher / Autoren-Treffpunkt)

Lieber Freund, mir träumte gestern ein seltsamer Traum. Es ist beinahe schade – zumal ihn außer mir niemand geträumt hat. Die tatsächlichen Gefühle zu beschreiben, welche dieser Traum in meinem Inneren ausgelöst hat, fällt mir mehr als schwer, denn solch einen Traum habe ich in meinem gesamten, bisherigen Leben noch nicht geträumt. Es ist, als ob ich mich schuldig fühlte; voller Demut auf ein Wunder wartete, dessen Eintreten mich all die Jahre des Wartens auf einen Schlag vergessen lässt. Mein lieber Freund, das Beste wird sein, dir von meinem Traum zu berichten.
Ich kann mich der genauen Gegebenheiten nicht mehr recht entsinnen, jedoch stand ich – von Gott und der Welt verlassen – mutterseelenallein am Ufer eines überschaubaren, kleinen Sees, inmitten einer Waldlichtung. Blickte ich mich um, so sah ich Laub- und Nadelbäume, die sich dutzende Meter gen Himmel erhoben und lange Schatten, die von ihnen auf die Lichtung geworfen wurden. Da man im Traum weder Kälte noch Wärme empfinden kann, bin ich mir des Klimas, welches um mich herrschte, nicht mehr vollkommen sicher, jedoch denke ich, es war ein lauer Sommerabend, der seine Kühle über die Lichtung ausbreitete. Die Sonne stand tief, und nur wenige ihrer Strahlen erreichten noch die Wasseroberfläche. Wenn man in den See blickte, sah man Fische und alle möglichen und unmöglichen Tierchen voller Leben darin umherschwimmen.
Doch Leben regte sich nicht bloß unter der Wasseroberfläche – nein, auf der blühenden und grünenden Wiese rund um den See waren allerlei Tiere des Waldes: Rehe mit ihren Jungtieren, ein stattlicher Hirsch, Waschbären scharrten in der Erde und suchten nach Futter oder vielleicht errichteten sie einen Bau, Vöglein zwitscherten und flogen in Schwärmen und luftiger Höhe über die Waldlichtung hinweg. Wo ich auch hinsah, grünte es: Die gesamte Lichtung war von einem regennassen Rasenteppich bedeckt, aus dem hier und dort ein Blümchen emporwuchs und seine Blüten dem Blau des Himmels entgegenstreckte. Sah ich zu Boden, so schlängelten sich dort Blindschleichen und Schnecken; Käfer krabbelten und auch die eine oder andere Ameisenstraße war auf abgebrochenen, hohlen Ästen oder morschen Baumstümpfen zu entdecken. Alles war erfüllt von prächtigstem Leben. Und inmitten dieser Idylle stand ich – am Ufer des kleinen Sees und ließ das auf mich wirken, was um mich war.
Wie lange ich so dort stand und die Harmonie und den Frieden auf mich einwirken ließ, auch das weiß ich nicht mehr, jedoch wurde mir nach einer gewissen Zeit absonderlich zumute. All das, was sich um mich befand, wirkte mit einem Mal eigentümlich – gar so, als ob es … ja, als ob es sich um einen Traum handeln würde. Ich wandte mich nach jeder Seite und versuchte zu erkennen, wo ich mich befand. Doch alle Mühe war vergebens. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, auf einen Baum zu steigen und nach einer Straße oder Stadt Ausschau zu halten – alle Bäume die ich sah, hatten entweder hohe, astlose Stämme oder waren zu unsicher, als dass ich hinaufzusteigen gewagt hätte. Panik befiel mich – was, wenn ich niemals nach Haus käme? Auf diese Lichtung führte – soweit ich erkennen konnte – kein Weg, und alles, was sich hinter der ersten Reihe dicht stehender Baumstämme auftat, war ein endloser Wald.
Mit jeder Minute, die ich krampfhaft nach einem Ausweg suchte, wurde ich umso panischer: Ich würde von hier niemals nach Haus finden. Den Tränen nahe, fasste ich einen Entschluss: Ich würde versuchen, den Wald zu durchqueren. Beherzt trat ich in das Dickicht aus abgestorbenem Gebüsch und anderen Sträuchern. Minuten vergingen, dann Stunden. Ich ging und ging. Mit jedem Schritt, den ich zu setzen wagte, kam die Sonne der Kimmenlinie ein weiteres Stück näher. Zuletzt war ihr goldenes Licht nicht mehr zu sehen – nur die Nachwirkungen des eben verstorbenen Tages waren noch zu bemerken, denn der Himmel präsentierte sich nun in dämmerigem Blau; einzelne Sterne strahlten bereits von oben herab – keine Wolke verdeckte mir die Sicht. Der Mond zeichnete sich in weiter Ferne kaum merklich vom Blau des Himmels ab.
Meine Panik war indessen weder abgeschwächt noch war sie verflogen – vielmehr war sie gewachsen und schien gleich einem dicken Kloß in meinem Hals zu stecken. Durch meine von Tränen nassen Augen sah ich die Umgebung nur noch verschwommen. Ab und zu, wenn ich meinen Arm hob, um mir die Augen auszuwischen, prallte ich gegen einen Baum – es war mir nicht bewusst, jedoch ging ich mit jedem meiner Schritte schneller und schneller. Hinaus, nur hinaus, dachte ich. Die wenige Augenblicke andauernde Dunkelheit, welche jedem meiner Lidschläge folgte, war mir ob meiner Angst nicht einmal aufgefallen.
Ich lief und lief, bis ich mit einem Mal stoppte. Ich erblickte etwas, das ich überhaupt nicht mehr erwartet hatte: Nur noch wenige Schritte von mir entfernt, tat sich ein baum- und strauchfreier Platz auf. Da ich auf diese Entfernung nicht mehr erkennen konnte, setzte ich mich in Bewegung und lief wie von der Tarantel in den Allerwertesten gebissen. War das der Ort, an den ich so verzweifelt zu gelangen versuchte? Möglicherweise befanden sich dort Menschen, die ich nach dem rechten Weg fragen konnte.
Kaum die Stämme der Bäume, die ich in den letzten Stunden zuhauf gesehen hatte, hinter mir gelassen, durchströmte eine Hitzewoge meinen Körper: Konnte das sein? Nein … Wie war das nur möglich? Allem Anschein nach war ich auf derselben Lichtung angekommen, die ich vor Stunden voller Panik verlassen hatte. Ich schlug die Hände vors Gesicht und trat auf die Flur hinaus. Wenige Meter vor mir befand sich ein kleiner Teich, in dem sich Forellen und Hechte tummelten; auch einen Barsch konnte ich erblicken. Kein Quäntchen Zweifel rührte sich mehr in mir – dies war dieselbe Lichtung!
Erneut stiegen mir Tränen in die Augen; ich brach zusammen und weinte bitterlich. Mit vorgeschlagenen Händen verinnerlichte ich mir die Einsamkeit des Waldes. Ich wollte augenblicklich sterben, denn nichts Anderes erwartete mich hier. Hunger, Verlassenheit – die Instrumente des Wahnsinns harrten nunmehr meiner.
Wie ich so in mich gesunken – einem Häuflein Elend gleich – auf dem Erdboden saß, vernahm ich eine Stimme, fast schon ein Flüstern. Sie sprach zu mir: »Warum all die Trauer? Weshalb sitzt du hier, gleich einem Kind, das seines letzten Spielzeugs beraubt wurde und bist versucht, dich aus dem Schlaf zu weinen?«
Ich schrak hoch – wer war das gewesen?
»Wer ist da? Und wo bist du?«
»Ich bin ich! Und ich bin genau hier, wo auch du bist.«
Kaum waren diese Worte in das leise Rauschen des Windes gesprochen materialisierte sich in einigen wenigen Metern Entfernung eine Erscheinung. Es war die Gestalt eines Mannes mit Kapuze und Mantel. Das Leinen seines Überwurfes war blau gefärbt – wie der Himmel, als ich zu träumen begann. Zunächst konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, doch dann zeigten sich mir Züge eines jungen Mannes, die weich und sanft waren; seine Haut war bleich-weiß wie Schnee, der eben erst zu Boden rieselte.
Ich erwartete, dass eine weitere Hitzewoge sich meines Körpers bemächtigte, doch wundersamerweise blieb eine solche aus.
Ohne nachzudenken sprach ich zu dem Fremden: »Ich suche seit Stunden einen Weg aus diesem Wald. Ich zweifle mittlerweile daran, ihn jemals zu finden. Kannst du mir einen Pfad zeigen, der aus diesem Wald hinausführt?«
»Es tut mir leid, aber aus diesem Wald zu finden ist niemandem vergönnt. In gewisser Weise trägst du daran selbst die Schuld, denn du hast ihn erträumt.«
»Ich habe ihn erträumt? Was ist mit diesen Rätselworten gemeint? Willst du mir sagen, ich befinde mich in einem Traum?«
»Ebendies versuche ich dir zu sagen …«
Ich zog es vor zu schweigen. Der Fremde hatte wohl mein Missbehagen bemerkt und sprach mit flüsternder Stimme: »Hast du deine Lider geschlossen und die lange Dunkelheit bemerkt, die ihnen folgte? Nein, gewiss nicht, denn du warst zu sehr damit beschäftigt, dich selbst zu bemitleiden. Komm, schließe deine Augen und versuche es!
Ich konnte nicht glauben, was ich da vernahm. Wenige Augenblicke überlegte ich, doch dann fasste ich den Entschluss: Ich wollte es versuchen.
»Also gut.«
Mit diesen Worten schloss ich die Augen. Augenblicklich breitete sich Dunkelheit um mich aus. Einige Sekunden verharrte ich, sog die frische Luft, welche als Lüftchen meine Haut umschmeichelte, in meine Lungen und öffnete die Augen. Augenblicklich erstarb das Rauschen der Blätter. Entsetzten. Als ob ich zu Haus dem Schlaf nahe über meinen Büchern sitzend die Augen geschlossen hielte, blieb es finster. Ich wandte den Kopf nach beiden Seiten, und bald darauf, kehrte mein Augenlicht zurück. Da war sie wieder: die Lichtung, eingezäunt von den hohen Stämmen des Waldes, in ihrer Mitte der kleine See. Nur keine Tiere fanden sich mehr rund um ihn.
»Also ist es wahr«, sprach ich.
Die Erkenntnis wog schwer auf meinen Schultern, und in meinem Inneren war es, als ob ein gordischer Knoten mit einem Mal zerschlagen würde.
»Das ist es«, antwortete der Fremde.
Mein Blick wanderte in die Richtung, in der sich vor Stunden die untergehende Sonne befunden hatte. Der Mond schien an ihrer statt vom Himmel, der sich mittlerweile vollkommen verfinstert hatte. Tausende Sterne leuchteten auf dem Himmelszelt zu mir herab und spiegelten sich auf dem Wasser des Sees wider. Es sah aus, wie das Glimmen weniger, kleiner Lichter auf einem See aus purer Schwärze. Ein kalter Schauer lief – von meinem Nacken ausgehend – über meinen Rücken.
»Was muss ich tun?«, flüsterte ich – in die regsame Schwärze starrend.
»Geh ins Wasser und blick nicht zurück. Blickst du zurück, wirst du auf immer in diesen Wäldern gefangen sein. Nie wirst du auf eines lebenden Menschen Seele treffen – ewig gefangen in einem sommernächtlichen Traum.«
Die Worte, obgleich nur ein Flüstern, klangen so klar und deutlich an mein Ohr, als ob der Fremde mir direkt gegenüber stünde. Obschon ich diese Sätze das erste Mal in meinem gesamten Leben hörte, kamen sie mir vertraut vor. Ja, es war, als ob ich im tiefsten Herzen gewusst hätte, was zu tun war, und ich nur zu feige gewesen wäre, es als wahr anzunehmen. Erneut überkam mich ein Kälteschauer.
Ohne den Fremden eines weiteren Blickes zu würdigen, trat ich auf den See zu. Wieder regte sich Wind – er peitschte die Wasseroberfläche auf und bildete winzige Wellen, welche die vormals sichtbaren Abbilder der Sterne zu verschlucken schienen. Vor mir lag ein brodelnder See, voll mit des Peches Schwärze.
Ich musste meine Angst überwinden, denn ansonsten würde ich diesen unheimlichen Ort nie wieder verlassen, und so tat ich den ersten Schritt, hinein ins Wasser.
Zu meiner Verwunderung geschah … nichts! Überhaupt gar nichts! Obwohl der See noch immer von leichten Wellen rührig war, sich kein Stern auf ihm spiegelte, und ich keine lebendige Regung in ihm erblicken konnte, geschah nichts. Ich hatte damit gerechnet, elendige Schmerzen ertragen zu müssen, von eisiger Kälte geschüttelt zu werden oder möglicherweise in Säure zu steigen, die mir meine Beine unter Höllenqualen verätzt, doch nein. Beherzt ob dieser freudigen Erkenntnis trat ich einen weiteren Schritt ins Wasser; und einen weiteren; und noch einen … bis das Wasser meine Körpermitte erreicht hatte.
Einen kurzen Moment war ich versucht, mich umzuwenden und nach dem Fremden zu sehen, doch dann entsann ich mich seiner Worte: »Geh ins Wasser und blick nicht zurück. Blickst du zurück, wirst du auf immer in diesen Wäldern gefangen sein …«
Sowie ich mich des letzten Wortes erinnert hatte, schloss ich die Augen … und warf mich in die Schwärze. Kurz noch vernahm ich das dumpfe Rauschen des Wassers … dann schrak ich hoch. Ich saß in meinem Bett. Draußen war es noch dunkel, meine Gardinen zugezogen, und mein Zimmer bot denselben vertrauten Anblick, den es schon sehr bald, nachdem ich hier eingezogen war geboten hatte. Alles, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte, war demnach wirklich bloß ein Traum gewesen. Dieser Fremde, mein Gefährte, hatte mir also die Wahrheit gesagt.
Ich habe es dir zu Beginn meiner Erzählung gesagt, lieber Freund: Meine Gefühle sind schwierig zu beschreiben. Tatsächlich empfinde ich tiefe Dankbarkeit für diesen junge Mann, der mir in meinem Traum den rechten Weg gewiesen hat. Ich neige mein Haupt in Demut vor dem Fremden und – – Ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll …
Weißt du, ich würde alles daran setzen, dieser Person im Traum noch ein einziges Mal zu begegnen. Und zwar, um mich bei ihr zu bedanken.
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5. Zyklus
Wow...
Seehr rätselhaft!
Ich konnte nie Kurzgeschichten schreiben, aber diese ist geradezu perfekt.
Die Sprache ist gut gewählt, man kommt sich vor wie in etwas älterer Zeit. Dass es ein Brief ist (wie es aussieht) ist eine Gute Idee und das ganze wirkt auch realistischer, als gäbe es diesen Brief wirklich.
Dann sind die Fomulierungen alle so weich und flüssig und originell, dass jeder nur davon lernen kann.
Und die Stimmung ist atemberaubend!
"Ich neige mein Haupt in Demut vor dem Fremden und – –" also, diese Stelle wirkt etwas... nachträglich eingefügt, auch wenns vielleicht nicht so ist. Deshalb würde ich ihn irgendwie mit dem vorherigen in Verbindung setzen, sonst klingt es recht abgehackt.

Naja, eine winzige Feinheit, aber sonst hätt ich ja überhaupt nichts zu kritisieren^^

Nur immer weiter so!!

LG Lampy

PS: Juhu ich bin die erste die hier schreibt :-))
PPS: was heißt das 5. Zyklus dadrunter??
Hallo Lampro! =)

Juhuu, auch ich freue mich, dass ich einen Kommentar zu meiner Kurzgeschichte bekommen habe! Nein, der Satz war durchaus nicht im Nachhinein eingefügt, aber wenn er sich komisch anhört, werde ich ihn mir wohl nochmals zur Brust nehmen! Ich danke für deine zahlreichen Komplimente. Es ist so, dass dieser Traum keinesfalls ausgedacht ist -- ich habe ihn wirklich einmal geträumt. Natürlich nicht so ausführlich, durch den Wald lief ich beispielsweise nicht, aber sonst stimmt alles! Ich freue mich, dass dir diese Kurzgeschichte gefällt, das macht mir Mut, weitere zu schreiben!

Liebe Grüße und nochmals danke, danke, danke!
Arach
ja ich wollte meine Träume auch mal aufschreiben die waren immer so abenteuerlich, aber dann ist mir aufgefallen, dass es sich nicht für ne Kurzgeschichte eignet, weil alles nur noch unmöglich ist. Da verändern sich Sachen einfach so, die Glaswand ist dann plötzlich ein Netz... außerdem vergesse ich immer die Hälfte (wie das bei Träumen so ist) dann weiß ich zwar, was passiert ist, aber ich kannst nicht erzählen.
naja, nur immer weiter so (oh... Wiederholung?^^) un ich hoffe dass sich die anderen dieses Forums deine Geschichten mal nicht entgehen lassen. *mit Zaunpfahl wink*

LG Lampy
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