Hallo!
Ich schreibe seit ein paar Monaten an meiner mittlerweile dritten Story und hoffe, diese endlich fertig zu bekommen.
Vorweg: Sie hat nichts mit Fantasy zu tun, es handelt eher vom Leben, dem Tod, der Jugend, Veränderung, Intrigen, Zerstörung, Glück.... ach ich kanns nicht zusammenfassen. Ich habe erst einmal den Prolog, das erste und zweite Kapitel veröffentlicht, bin zur Zeit bei dem 6. Kapitel, habe momentan leider wenig Zeit.... falls Interesse vorhanden ist, mehr zu lesen könnte ich die weiteren Kapitel veröffentlichen oder per email etc. schicken. Leider bin ich nicht dazu gekommen selbst noch mal die Geschichte auf Fehler zu überprüfen, wenn ihr welche findet ruhig posten, danke!
Als Thilo die Vögel singen hörte
Prolog
Vögel singen immer
Als Thilo die Vögel singen hörte, drehte er sich noch einmal in seinem Bett um, direkt zur Wand. Jetzt bloß nicht wach werden. Die blöden hellen Sonnenstrahlen, die anscheinend direkt auf sein Gesicht ausgerichtet waren, mussten ihn ja wecken. Wie viel Uhr war es? Nicht auf die Uhr schauen. Der Wecker wird gleich klingeln, entspann dich bis dahin wenigstens ein kleines bisschen. Doch seine Neugier siegte. Er richtete sich auf und sah auf die Uhr. 6: 45 zeigte sein digitaler Radiowecker an. Sein Vater hatte ihn ihm geschenkt, weil er irgendwann mal behauptet hatte, er würde gerne Radio hören.
So ein Blödsinn, da war ich gerade mal 11 oder so, dachte er nur. Das Radio ging ihm, seitdem es jeden Morgen um 7: 15 Uhr klingelte tierisch auf die Nerven.
Aber er hatte noch eine halbe Stunde Zeit! Toll, was brachte ihm das? Zu kurz um noch einmal einzuschlafen, zu lang um schon aufzustehen.
Er legte sich wieder hin, wand sich zum Fenster und sah nach draußen.
Was für ein Kaff, dachte er nur. Vor ihm lag nichts als Wald. Da er im ersten Stock wohnte, sah er von seinem Fenster aus natürlich nicht den großen, grünen Garten. Brauchte er auch nicht. Der war voller Kinderspielzeugen.
In seinem Zimmer war noch angenehm kühl, da er über Nacht das Fenster offen gelassen hatte. Doch über den Tag würde es sich sicher wieder aufwärmen.
Er drehte sich wieder um, drückte die Decke an sich und dachte nach. Diese Mädchen aus seiner Klasse, sie war einfach toll. Wenn er sich doch nur zutrauen würde mit ihr zu sprechen!
Seit Wochen kann er schon an nichts anderes denken.
Das Gejodel von irgendeinem Schlagersänger riss ihn aus seinen Gedanken und er zuckte zusammen. Mit einem lauten Knall schaltete er den Wecker aus. Aufstehen ist angesagt. Normalerweise würde das bei ihm länger dauern, aber heute ist geht es richtig schnell.
Nachdem er sich angezogen hatte, lief runter in die Küche.
„Morgen Thilo.“ sagt seine Mutter, die dabei die Pausenbrote für ihre Kinder schmierte.
„Schon so früh heute?“
„Morgen Mama.“ antwortete er. „Was frühstücken wir heute?“ gierig schaute er dabei hinüber ins Esszimmer.
„Müsli, es steht auf dem Tisch.“ sie drehte sich zu ihm und sah ihn an. „Aber wartest du nicht noch auf deinen Vater und deine Geschwister?“
Thilo verdrehte die Augen. Ja aber natürlich, wie konnte er nur seine Geschwister vergessen, vor allem, wo er so viele hatte. Sein Bruder und seine Schwester reichten ihm schon, doch vor 3 Jahren musste seine Mutter ja auch noch Zwillinge zur Welt bringen.
„Ich setze mich schon mal hin.“ sagte er und ging vergnügt ins Esszimmer und setzte sich artig hin.
„Morgen Schatz.“ nach diesem Satz folgte immer ein unüberhörbares Schmatzen, wie er es hasste, wenn sich seine Eltern küssten. Aber da war sein Vater, der jetzt ins Esszimmer kam!
„Morgen Papa!“ sagte Thilo vergnügt und wackelte nervös auf seinem Stuhl herum.
Warum er so nervös war? Sein Vater hatte ihm etwas versprochen. Und er musste es heute einhalten.
„Morgen Thilo.“ sagte dieser ruhig und setzte sich an den Tisch mit seiner Zeitung und einer Tasse Kaffe in der Hand.
Thilo sah ihn erwartungsvoll an, sagte aber vorerst nichts. Schließlich musste er seinen Vater auch mal auf Probe stellen.
Sein Vater lächelte. „Du schaust so erwartungsvoll, als wenn ich dir versprochen hätte mit dir, und nur mit dir, endlich zu einem Basketballverein zu gehen, um dich dort anzumelden, hm?“
„Ja und ich bin schon ganz nervös, ob sie mich gut finden werden.“ sprudelte es aus Thilo heraus.
„Na ja, wir haben ja oft genug geübt. Dir wird es gefallen. Ich habe genau in deinem Alter mit diesem Sport angefangen und es war die einzige Sportart, die ich so gut konnte, dass ich nicht als letzter, sondern als erster im Schulsport gewählt wurde, wenn wir Basketball gespielt haben.“
Thilo lachte. „Aber ich muss noch wachsen. Ich bin zu klein.“ sagte er etwas wütend auf sich selbst. Sein Vater war 1,90 groß! Warum konnte er nicht auch so groß werden?
„Das wird schon werden. Du bist doch erst 13, da war ich auch noch nicht so groß.“
Thilo nickte.
Seine Mutter brachte die Getränke und mit ihr spazierte auch Thilos jüngerer Bruder Anton, unbekümmernd pfeifend, ins Esszimmer.
Er setzte sich gegenüber von Thilo und schnitt ihm Grimassen.
„Man kann auch Guten Morgen sagen, du Penner.“ sagte Thilo, wobei er kritisch zu seinem Bruder starrte.
„Thilo, sag das nicht noch einmal.“ schimpfte seine Mutter, die sich schon wieder umdrehte, vermutlich um Linda zu wecken.
„Ja, Thilo, wirklich.“ grinste Anton.
Die Mutter blieb stehen und sah beide tadelnd an. „Anton, du hättest natürlich auch uns allen einen Guten Morgen wünschen können.“
„Ja, hab ich aber nicht.“ erwiderte er.
„Stefan, sag doch auch mal was dazu!“
Der Vater sah zu seiner Frau und sagte dann: „Anton, sag uns jetzt gefälligst allen wenigstens ‚Morgen’, sonst kannst du dein Rennauto ganz vergessen. Und Thilo, benutze das Wort ‚Penner’ nur noch, wenn wir nicht im Raum sind.“
„OK. Hauptsache ich darf so coole Wörter benutzen.“ nickte Thilo.
„Morgen.“ sagte Anton ein wenig schmollend.
Einige Minuten sagte niemand etwas. Thilo und Anton sahen sich übereinstimmend ein und beschlossen, schon einmal ohne die anderen anzufangen.
Die Mutter und Linda waren endlich da und aßen jetzt auch.
„Mama, ich habe mir heute eine tolle Frisur überlegt, die ich mir machen könnte.“ sagte Linda.
„Wirklich? Na erst einmal müssen wir deine Haare bürsten.“
„Oh Gott, Mädchen.“ sagte Anton nur nach oben blickend.
Thilo sagte nichts dazu. Mittlerweile hatten sich Mädchen zu etwas besserem als nervige Zicken entwickelt, jedenfalls für ihn.
„Was ist mit den Kleinen?“ fragte der Vater die Mutter.
„Die schlafen noch.“
„Im Ernst? Das ist ja unfassbar. Ich habe mich schon gewundert, dass sie hier noch kein Chaos veranstaltet haben.“
„Da siehst du mal, wie brav unsere Kinder sind.“ die Mutter hielt die Hand des Vaters und sie lächelten sich an.
„Ich muss los Schatz.“
Die Mutter sah auf die Uhr. „Oh ja, die Kinder müssen auch langsam, der Schulbus fährt schließlich nur um eine Uhrzeit vorbei.“
Die Familie Rosenthal lebte recht abseits von der eigentlichen Stadt, die selbst nicht einmal sehr groß war, sodass die drei ältesten Kinder immer vom Schulbus abgeholt werden wurden.
„Und vergiss nicht unsere Vereinbarung Papa!“ sagte Thilo noch zu ihm.
„Natürlich nicht. Versprochen. Ich muss heute auch nicht lange arbeiten, also ist es kein Problem.“ er zwinkerte ihm noch zu und ging dann in den Flur um dort seinen Aktenkoffer zu nehmen und zu verschwinden.
Stefan Rosenthal arbeitet als Rechtsanwalt noch weiter weg, als die Schule der Kinder lag. Er fuhr jeden Tag mit seinem ‚Dienstauto’, ein älteres Mercedes-Modell, pünktlich los, erschien immer pünktlich zur Arbeit und machte seine Arbeit gut.
Andrea Rosenberg arbeitete zu Zeit gar nicht, früher hatte sie in einem Blumengeschäft im Dorf gearbeitet. Seit der Geburt von Anton hatte sie den Job ganz aufgegeben.
Sie liebte ihre Kinder sehr und war somit auch bereit dafür, sich für sie aufzuopfern. Das hieß auch, oft jeden Tag dasselbe zu machen. Doch es machte ihr nichts aus. Auch die unerwarteten Zwillinge waren kein Problem, höchstens ein finanzielles, aber für diese Dinge war sie ja nicht verantwortlich, sondern Stefan. Jeden Morgen brachte sie die Kleinen jetzt in den Kindergarten und machte in dieser Zeit das Haus sauber. Eine Putzfrau hatte sie immer abgelehnt.
Thilo, Anton und Linda standen zusammen mit den anderen Kindern aus der kleinen Straße an der Bushaltestelle. Thilo stand auf seinem Ranzen und machte einen Politiker nach. Die Kinder amüsierten sich.
„Thilo, du bist so ein Kleinkind!“ rief ein Mädchen in seinem Alter.
„Ist mir doch egal.“ rief er nur zurück.
Es wurde wärmer. Der Schulbus kam und alle Kinder stiegen brav ein.
Andrea weckte Marie und Florian um sie zum Kindergarten zu fahren. Danach machte sie die Betten, schrubbte die Böden, staubsaugte.
Das Telefon klingelte. Huch, wer könnte das sein? Bestimmt ein Freund von Stefan, der nicht wusste, dass er heute arbeitet.
„Rosenberg.“ meldete sie sich freundlich am Telefon.
Die Person am anderen Ende klang besorgt und sehr ernst.
Auf dem Pausenhof herrschte reger Verkehr. Thilo stand bei seinen Freunden und lachte über ihre Witze.
„Hey, Thilo, hast du heute Zeit? Wir können ja mein neues Videospiel spielen.“ schlug Philipp, sein bester Freund, vor.
Stolz antwortete er: „Nein, ich gehe heute mit meinem Vater zu einem Basketballverein.“
Misstrauisch schaute Philipp ihn an. „Du bist viel zu klein.“
„Ja ja, du bist nur neidisch. Und beleidigt, weil ich keine Zeit hab.“
„Stimmt nicht!“
„Wir können morgen noch was machen.“
„Tja, morgen habe ich aber Klavierunterricht. Ätsch.“ sagte Philipp in seinem Ich-meine-das-nicht-ernst Ton.
Thilo lachte und fragte dann: „Warum stehen wir hier eigentlich noch?“
„Wir warten auf Pille?“
„Achso, stimmt, hatte ich schon fast vergessen.“
Pille war Thilos anderer bester Freund sozusagen. Er war vielleicht etwas durchgedreht, aber sonst ein echt cooler Typ.
Nachdem er endlich angekommen war, schlenderten die drei Jungs von der Schule aus zur Haltestelle und warteten auf den Bus.
Das Schild der Bushaltestelle war schon veraltet, so wie alles in diesem Kaff, wie Thilo fand. Das sagte sein Vater auch immer. Aber in solchen Dörfern könnte man am sorglosesten leben, sagte er immer.
Vielleicht hatte er Recht. Große Sorgen um irgendwelche Dinge musste sich Thilo noch nie machen. Er war gut in der Schule, hatte jeden Tag etwas zu tun…
Doch sie hatten Recht. Alle, die es behaupteten: Thilo war unglaublich kindisch.
Möglicherweise lag es an seinen kleinen Geschwistern oder daran, dass er kaum Verantwortung übernehmen musste oder daran, dass er einfach gerne Kind war.
Doch eins war er, was nicht unbedingt alle Kinder waren: nachdenklich.
War er noch ein Kind oder sozusagen schon ein Jugendlicher?
Als Thilo die Vögel singen hörte und dann das brummende, zufriedene Geräusch des alten Schulbusses zu hören bekam, stieg er ein.
Sein Bruder und seine Schwester waren vermutlich schon Zuhause. Linda ging noch auf die Grundschule, schließlich war sie erst 9, Anton und er gingen auf das gleiche Gymnasium, aber Anton hatte früher Schule aus. Er war der beste von den Geschwistern in der Schule. Aber kein Wunder, wenn seine Eltern ihm gesagt hatten, er solle lieber fleißig lernen als sich mit Kindern zu treffen, hat er dies auch befolgt. Gehorsam war er, ja.
„Voll kindisch.“ sagte Pille.
„Was?“ fragte Thilo.
„Das so viele Kinder bei uns auf der Schule noch Fangen spielen und Seilchen springen.“
„Ja.“
„Ich habe gehört, in größeren Schulen sei viel mehr los. Da machen die Jugendlichen was SIE wollen und nicht was die scheiß Lehrer wollen.“
„Echt?“ Thilo sah zu erst Pille, dann Philipp an, der nur gleichgültig dreinblickte.
„Ja, da läuft das wohl ganz anders ab, als hier.“
„Kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Philipp seufzte. „Vielleicht ziehen ich und meine Eltern in die Stadt.“
„Warum?“ fragte Thilo.
„Weil mein Vater dort eine bessere Arbeitsstelle angeboten bekommen hat.“
„Krass.“ meinte Thilo. „Wie findest du das?“
„Scheiße, ich will hier nicht weg, hier hab ich schon immer gewohnt.“
„Irgendwie kann ich mir das auch nicht vorstellen.“ pflichtete Thilo bei.
„Na, ich schon.“ meinte Pille.
„Ach?“
„Klar. Das ist so wie hier, nur viel besser. Wie ich schon gesagt hab.“
„Rauchen die da nicht irgendwie schon voll früh?“ fragte Philipp.
„Ja.“ antwortete Pille. „Und sie machen Partys. Da wird auch Alkohol getrunken.“
Philipp sah Pille verwirrt an. „Was isn das?“
„Oh Gott. Das ist das, was auch in Bier drin ist, was mein Vater trinkt. Wenn ich mal alt genug bin, trinke ich das auch, genau wie er.“ sagte Thilo nickend.
„Ha, in der Großstadt trinken die das auch schon früher.“ meinte Pille.
„Woher willst du das eigentlich wissen?“ fragte Thilo skeptisch.
„Na mein Cousin. Der kommt doch daher, der hat mir das erzählt. Ich war auch schon bei dem zu Besuch, da hatte er auch voll viele Freunde zu Besuch und die haben sich so komische Dinge gedreht, ich glaube, das waren Zigaretten.“
„Boah. Cool.“
„Meine Mutter sagt, die sind schlecht für die Gesundheit.“ sagte Philipp.
„Meine auch. Aber die sagt viel, sagt auch Papa.“ grinste Thilo.
„Und du gehst heute Basketballspielen?“ fragte Pille höhnisch grinsend.
„Ja, und?“ sagte Thilo und erwartete dabei schon einen blöden Witz.
„Nichts. Ist doch cool, vor allem wenn dann alle den kleinen Zwerg auf dem Spielfeld übersehen.“
„Du bist ja auch nicht viel größer als ich, also halt mal die Klappe.“
„Pah.“ lächelte Pille.
Der Bus hielt an Thilos Straße.
„Oh, wir sind schon da. Komm Philipp! Bis Morgen, Pille.“
„Ciao.“ sagte Pille und die beiden Jungs stiegen aus.
„So ich gehe jetzt essen und dann spiele ich alleine meine Videospiele.“ sagte Philipp.
„Morgen spiele ich mit, versprochen.“ antwortete Thilo.
„Bei mir gibt’s Spaghetti.“
„Bei mir… weiß ich gar nicht. Ich habs vergessen! Ich muss den ganzen Tag ans Basketball denken, das wird super.“
„Dann bis morgen.“
Thilo schloss die Tür auf und stieß ein lautes „Hallo“ ins Haus. Doch niemand antwortete.
Er legte seinen Rucksack erst einmal auf dem Flur ab, als ihm Marie entgegenkam.
„Hey, Mariechen.“ sagte Thilo.
„Mama weint.“ sagte sie zu ihm.
„Warum?“ Thilo war erschreckt. Doch nicht so sehr. Vielleicht hatte sich seine Mutter nur wieder einen traurigen Film angeguckt.
Er ging in die Küche und sah nichts auf dem Herd, im Esszimmer standen keine Teller. Er wunderte sich. Dann ging er ins Wohnzimmer.
Ein Fenster war weit geöffnet und davor stand ein Putzeimer.
Seine Mutter saß auf dem Sofa. Aber nicht so, wie sie sonst saß. Sie saß dort, zusammengekauert und strich sich mit ihren Händen dauernd über ihre Beine. Ihre braunen, leicht welligen Haare hingen ungeordnet über ihrem Gesicht, sodass man es gar nicht sehen konnte. Dann schaute sie zu Thilo auf.
Er erschreckte sich fürchterlich. Sie hatte ein ganz rotes Gesicht, rote, kleine Augen und die Nase lief. Vor ihr lag eine Packung Tempos, von dem sie eins nahm und sich die Nase putzte. Dann schluchzte sie.
„Mama?“
Sie antwortete ihm nicht.
„Mama, ist was passiert?“
Sie antwortete ihm immer noch nicht.
Er ging auf sie zu und blieb dann kurz vor ihr stehen, als wenn er noch einmal genau hinschauen zu müssen, um sich zu vergewissern, ob das was er sah, auch wirklich so war.
Mama antwortet doch sonst immer!
Marie tapste leise ins Zimmer.
„Mama, hör auf zu weinen!“ rief sie. Sie hatte einen verzweifelten Gesichtsausdruck, den man bei so kleinen Kindern eher selten sieht.
„Mama, wo sind die anderen?“ Thilo vermutete das schlimmste. „Ist was mit Linda passiert? Oder mit Anton? Wo ist Flo?“
„Ich bin hier.“ rief Anton im Flur.
„Hä, was ist denn hier los?“ langsam wurde Thilo wütend darüber, dass er nicht wusste, was los war und bekam richtig Panik.
Linda. Linda war verschwunden. So wie das Mädchen aus dem Fernsehen, was eine Woche vermisst wurde und dessen Leiche man dann in einem Fluss gefunden hat.
Thilo hatte Angst und schrie jetzt. „Ma-Ma!“
„Papa.“ schluchzte seine Mutter jetzt.
„Was?“
„Papa… er... er ist tot.“
Im Flur war ein lautes Heulen zu hören, wie von einem Tier, etwas unmenschliches, von dem niemand gedacht hätte, dass es von einem Menschen stammen könnte.
„Was?“ wiederholte Thilo. „Papa ist tot? Mein Papa?“
Seine Mutter heulte jetzt. Thilo hörte, wie Anton die Treppen hoch stampfte.
Sein Vater soll tot sein? Das geht nicht. Alle können streben, aber sein Vater noch lange nicht. Er ist stark, er ist groß, er passt immer auf, wenn er Auto fährt, wenn er angegriffen wird, kann er sich wehren und er ist immer gesund.
Und er hatte versprochen, mit ihm Basketball spielen zu gehen, in einer richtigen Halle und ihn sogar in einen Verein einzutragen.
Seine Mutter musste sich einen schlechten Scherz erlauben.
Doch obwohl Thilos Gedanken immer noch gegen die Fakten ankämpften, wusste er in diesem Augenblick schon genau, dass er seinen Vater nie wieder sehen würde.
Und aus dem geöffneten Fenster strömte kalte Luft in den Raum, der Himmel hatte sich verdunkelt. Oben in Antons Zimmer lag ein weinender 11-jähriger im Bett und hielt sich ein Kissen auf den Kopf und ein 3-jähriger saß daneben und wusste nicht genau was los war und sagte immer wieder: „Papa kommt doch wieder, der ist nur arbeiten.“
Im Wohnzimmer war Durchzug, dadurch, dass das Fenster in der Mitte der rechten Wand so weit offen stand und die Wohnzimmertür immer noch offen war. Aber sie klatschte zu. Marie schrie vor schrecken auf, ihre Mutter versank mit ihrem Kopf in ein Kissen der Couch und als Thilo die Vögel singen hörte, setzte er sich schließlich hin und starrte verzweifelt auf den Parkettboden.
Kapitel 1
Der Abschied
Etwa 2 Jahre später
Als Thilo schon lange die Augen geöffnet hatte und den Duft der Fichten roch, der langsam aus dem geöffneten Fenster zu ihm stieg, regte er sich in seinem Bett.
Er schaute auf seinen alten Radiowecker. 6: 45. Na toll. Was sollte er machen? Schon einmal aufstehen und alles bereit machen, damit alles schneller lief? Oder zu gewohnten Zeit aufstehen, dafür etwas mehr schlafen, aber dann am Schluss wieder in Hektik geraten?
Als wenn ich jetzt noch einschlafen würde, dachte er sich und stand auf. Er ging direkt ins Badezimmer, machte die Tür leise zu und sah sich im Spiegel an.
Ein blasses Gesicht mit kleinen grün-braunen Augen sah ihn verträumt an.
Er fasste sich durch seine recht kurzen, blonden Haare und überlegte dann. Er hatte keine Lust, sich die Haare zu waschen, da musste er sie immer föhnen.
Er zog sich aus und stieg in die Dusche. Das kalte Wasser weckte ihn auf.
Was würde er heute machen? Mathe-Arbeit, ach ja. Versau ich eh, dachte er sich nur.
Nach der schnellen Dusche zog er sich an, etwas wärmer als sonst, da das, was er dort draußen im Fenster sah, nicht besonders erfreulich aussah. Mit Jeans und einem blauen Pullover von irgendeiner ihm unbekannten Marke wollte er nun hinunter gehen, doch er wollte sich seine Haare noch schick machen. Er schaute auf die Uhr. Ja noch genug Zeit.
Das Haar-Gel verklebte seine Haare zu einer weniger einfallsreichen, aber ordentlichen Frisur mit Pony nach oben.
Er lief nach unten in die Küche, holte Müsli und sechs Teller aus dem Regal, Milch aus dem Kühlschrank und deckte den Tisch im Esszimmer.
Danach ging er ins Wohnzimmer. In der Ecke, in der vor einigen Jahren noch eine Topfpflanze gestanden hatte, stand ein brusthoher, schmaler Schrank aus dunklem Eichenholz. Hauptsächlich war seine Oberfläche wichtig.
Auf ihm lag ein kleines Stoffdeckchen auf dem wiederum ein eingerahmtes Foto von seinem Vater stand, darum standen drei Teelichter.
Er öffnete die Schranktür. In diesem Schrank wurden gemalte Bilder, Fotos, andere Erinnerungsstücke an seinen Vater aufbewahrt. Auf der obersten Fläche lag nur ein Feuerzeug. Er nahm es und zündete alle Kerzen an, legte es wieder zurück.
„Wieder Müsli?“
„Hm?“ Thilo drehte sich verwundert um und sah seinen Bruder Florian skeptisch an.
„Es wird das gegessen, was auf den Tisch kommt.“
Florian drehte sich wütend um. „Ich will das nicht.“
„Ich weiß, das schmeckt nicht. Aber Mama konnte gestern nicht einkaufen.“
„Wenn du mir Geld gibst, kann ich ja mal einkaufen gehen!“
Thilo lachte. „Der Supermarkt hier ist viel zu weit weg. Das kannst du vergessen. Ist Marie schon wach?“
„Ne. Aber ich will lieber Schoko-Müsli!“
„Das ist jetzt nicht mein Problem, sei still jetzt.“
Wenn Florian ihn jetzt nervte, würde der Morgen noch richtig ätzend werden.
„Ich hab eine Aufgabe für dich.“
Neugierig stellte sich Florian grade vor ihm hin und grinste ihn an.
„Dein Auftrag im Namen der Majestät lautet: Wecke Marie, Linda und Anton. Wenn einer von ihnen schon wach ist, musst du ihnen sagen, dass es Frühstück gibt.“
Diese Masche zog immer, wenn Florian gut gelaunt war. Einfach mal einen richtig nervige Aufgabe so umformulieren, dass er meint, dass er für diese wichtige Aufgabe ausgewählt wurde und sie erfüllen muss.
„Ay, ay Sir.“ sagte er und watschelte betont lässig zum Flur.
Bescheuertes Kind, dachte Thilo und musste dabei lächeln. Er schüttete sich sein ekliges Müsli ein, dessen Bestandteile nur Hafer, Früchte und wahrscheinlich irgendeine Art Geschmacks neutralisierendes Zeug waren, da es absolut nach gar nichts schmeckte. Die Milch, die er dazu schüttete, war das leckerste an der Mahlzeit. Obwohl es doch ‚nur’ H-Milch war.
Als er beim dritten Löffel angelangt war kam eine sehr verschlafene Linda in das Esszimmer und schüttete sich ein wenig Müsli in die Schüssel.
„Scheiß Schule.“
„Du bist grade mal in der 5. Klasse und beschwerst dich schon.“
„Mein Klassenlehrer hasst mich.“
„Dann benimm dich eben besser.“
„Mach ich doch.“ sagte sie schmollend.
Die Zwillinge kamen jetzt beide ins Zimmer gewatschelt. Marie setzte sich direkt vor ihre Schüssel und nahm sich ihr Essen.
„Nimm nicht so viel, sonst wirst du fett!“ lachte Linda.
Marie sah sie verzweifelt an. Dann schüttete sie ein Teil ihres Essens in eine andere Schüssel.
„Auftrag ausgeführt.“ sagte Florian.
„Nicht ganz.“ meinte Thilo mampfend. „Wo steckt Anton?“
„Der will nicht aufstehen.“ antwortete Florian und sah dabei beschämt auf den Boden.
„Dieser Penner.“
„Ja!“ Florian setzte sich neben Marie. „Du hast mir schon was von deinem blöden Müsli gegeben, das will ich nicht.“
„Musst du aber.“ sagte Marie.
„Nein! Das ist von dir, du hattest das schon im Mund!“ sagte Florian und machte Anstalten, das Ganze wieder umzuschütten.
„Nein, gar nicht war!“
„Ruhe jetzt, Mama muss schlafen!“ sagte Thilo wütend. „Florian, stell dich nicht so an, dass ist genau das Müsli, das du auch essen würdest, wenn du dir es selbst in die Schüssel tun würdest! Marie, du wirst von Müsli eh nicht fett.“
„Haha, die glaubt auch alles.“ kicherte Linda.
„Und du hörst auf, sie ständig zu verarschen.“ sagte Thilo zu Linda.
„Als wenn…“
„Ach, sei still jetzt.“ Thilo schaute auf die Uhr. Viel zu spät.
Er stand auf und sagte noch: „Und jetzt nicht mehr laut werden, kapiert?“
Die Kinder nickten, immerhin akzeptierten sie das.
Jetzt lief Thilo nach oben und klopfte laut an Antons Zimmertür, trat dann ein und zog Antons Decke weg.
„Steh auf.“
„Lass mich!“ rief er.
„Ar, jetzt stell dich nicht so an. Ich muss jetzt zur Schule und dein Bus kommt auch in einer Viertelstunde.“
„In einer Viertelstunde?“ Anton richtete sich auf.
„Ja. Ich bin weg, Tschüss.“
Thilo lief hinunter, schnappte sich seine Schultasche, seinen Schlüssel, ging aus dem Haus und setzte sich auf sein Fahrrad, dass er damals zu seinem 12 Geburtstag bekommen hatte. Er musste 15 Minuten zur Schule radeln, wie er das hasste.
Nachdem sein Vater nicht mehr lebte, war Thilo schlagartig schlechter in der Schule. Aber nicht nur er, auch Anton und Linda.
Sein Lehrer wollte, dass Thilo sich einer Therapie unterzog und dann die 8. Klasse wiederholte. Stattdessen wollte seine Mutter aber, dass er sich zwar einer Therapie unterzog, aber nicht die 8. Klasse wiederholte.
„Das würde ihn nur zum Außenseiter machen. Er wäre der älteste in der Klasse.“
„Frau Rosenberg, ich bin mir sicher, ihr Sohn wird sich auch als ältester in einer Klasse wohl fühlen. Leider hat er nicht viele Freunde in dieser Klasse, wie sie jetzt ist, und ein Wiederholungsjahr ist eine sehr gute Möglichkeit für ihn, sich wieder neu zu orientieren.“
„Wer hat diesen Jungen zur Welt gebracht, ich oder sie?“
„Was meinen sie damit?“ er zögerte. „Frau Rosenberg, es ist in diesem Gebäude nicht gestattet, zu rauchen.“
Andrea Rosenberg zündete sich die Zigarette an und sah dabei provozierend Herrn Essmüller an, dann nahm sie einen kräftigen Zug und blies den Qualm in den Raum.
„Ich meine damit, dass ich meinen Sohn wohl besser kenne als sie. Er sagte mir mal, dass er nie eine Klasse wiederholen wolle, schon allein, weil ihm die Schüler in der Stufe unter ihm viel zu kindisch sind und er auch keine Lust hätte, den ganzen Stoff noch einmal durchzukauen.“
Herr Essmüller kratzte sich an seinem nur noch wenig von Haaren bedeckten Kopf.
„Frau Rosenberg, er wird das Jahr wiederholen müssen, da er in vier Fächern 5 steht. Und unterlassen Sie jetzt das Rauchen, sonst muss ich Sie bitten zu gehen.“
Andrea verdrehte die Augen, nickte dann aber und drückte die Zigarette im nahe gelegenen Papierkorb aus.
Was für ein dämlicher, penibler Arsch, dachte sie nur.
Sie hatte wenige Monate nach Stefans Tod mit wieder mit dem Rauchen angefangen. Er hatte es immer wieder geschafft, sie davon abzubringen, doch vor allem wenn sie Kummer hatte, war eine Zigarette immer gut für sie. Deshalb fiel es ihr besonders schwer, nach seinem Tod nicht mit dem Rauchen anzufangen und hat sogar ein paar Monate ohne Zigaretten ausgehalten. Bis sie einmal mit übler Laune in einen Kiosk spaziert war und das auch noch bei knappen Temperaturen über null draußen. Da konnte sie nicht widerstehen.
„Wie könnte man das verhindern, dass er sitzen bleibt?“ fragte sie und strich sich dabei durch ihre haselnussbraunen, lockigen Haare.
„Sie könnten ihn auf die Realschule in Sommerfeld schicken.“
„Ach, da gibt es eine Realschule? Das liegt ja auch viel näher an Auenrade.“
„Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht für Thilo?“
Andrea presse ihren rechten Finger auf ihre Lippe und dachte angestrengt nach.
Im Klassenraum war es ganz still. Das Ticken der Uhr schien ihre Gedanken zu ordnen.
So kam es, dass Thilo auf die Realschule wechselte. Heute wünschte er, er hätte einfach das 8. Schuljahr auf seiner alten Schule wiederholt. Da hatte er wenigstens ein paar wenige Freunde. Nicht das die Mitschüler in seiner neuen Klasse nicht nett wären. Aber irgendwie ist es nie zu näheren Freundschaften gekommen.
Es lag an mir, dachte er nur. Ich hatte damals einfach kein Bock überhaupt mit jemandem zu sprechen.
Während er mit seinem Fahrrad in einer schmalen Straße an Fichten und Tannen vorbei fuhr, holte er seinen MP3-Player aus der Hosentasche und schaltete ihn ein.
Noch 7 Minuten.
Es gab ein Wort, was seine die Realschule in Sommerfeld beschreiben konnte: langweilig.
Jedenfalls für Thilo. Womit würde er den ganzen Unterricht verbringen? Entweder aufpassen, auf den Boden oder die Wand starren oder zeichnen.
Ersteres sollte für ihn eigentlich die Regel sein, dachte er sich. Früher war ich so gut in der Schule…
„Also Mathematik, Französisch, Physik, Geschichte steht er 5.“
„Frau Rosenberg, normalerweise sollte ihr Sohn ein Jahr wiederholen. Aber ich glaube, wir könnten da bei ihm eine Ausnahme machen.“
Vor Andrea Rosenberg an einem großen, breiten Tisch saß eine pummelige, kleine Frau namens Frau Hummer, der Name traf teilweise auf ihr Aussehen zu, da sie, wenn sie wütend wurde, immer ein hummerrotes Gesicht bekam und sozusagen in der Schale dünstete.
„Wissen Sie, ich habe damals ja nur meine Großmutter verloren, die mir sehr wichtig war. Und ich wurde wirklich so schlecht in der Schule. Ich bin froh, dass unsere Lehrer darauf Rücksicht genommen haben und mir dann teilweise eine 4 gegeben haben, wo ich eine 5 verdient hätte.“
„Nun ja, er steht ja nicht nur 5. In Deutsch, Englisch, Religion…“
„Ja, ich weiß, ich habe sein Zeugnis ja schon per Fax bekommen.“
„Ach, richtig!“ Andrea versuchte freundlich zu lächeln. Jetzt bloß nicht unsympathisch oder von sich eingenommen wirken. Thilo muss an dieser Schule angenommen werden.
„Eine Frage.“ sagte Frau Hummer und rümpfte die Nase. „Rauchen Sie? Hier riecht es so nach Zigaretten.“
„Ähm.“ Andrea war in der Zwickmühle. Der gute Eindruck von der besorgten Mutter durfte nicht kaputt gemacht werden. Viele Pädagogen hassten Raucher. Meinte sie jedenfalls.
„Nein, ich rauche nicht.“
„Seltsam.“ Frau Hummer öffnete das Fenster. „Wie auch immer. Ihr Sohn wird an unserer Schule angenommen.“
„Wirklich? Oh Dankeschön, Frau Hummer.“ Andreas Augen leuchteten. Sie hatte es geschafft. Immerhin Realschule. Was Thilo wohl dazu meinte?
Damals sagte Thilo, es wäre in Ordnung. Damals war es ja auch „ganz okay.“
Damals dachte er immer noch daran, dass er immerhin mit Gleichaltrigen in der Klasse war. Damals dachte er nicht daran, dass er niemandem mehr zum Reden hätte.
Er war an der Schule angekommen. Es war eine sehr kleine, recht gemütliche Schule, die immer sauber war und wo alle Schüler hoch motiviert schienen.
Bereits nach der 5. Unterrichtsstunde hatte er Schule aus und die Mathearbeit lief besser als erwartet.
Heute hatte ihn niemand angesprochen. Kein Lehrer, kein Schüler. Es schien ihm oft so, als würde er für die anderen gar nicht existieren.
Zuhause ging er erst mal in die Küche, um zu sehen, was es denn heute zu essen gab.
„Wieder Spaghetti…“ murmelte er und sah in den Topf mit den zusammenklebenden Nudeln.
„Thilo, setzt du dich zu uns?“ hörte er seine Mutter aus dem Esszimmer rufen.
„Ja, ich komme jetzt!“ er nahm sich einen Teller und tat sich ein paar Spaghettis und Tomatensoße auf den Teller.
Andrea saß vor am Tischende, wo früher Stefan meistens saß und hatte ein ernstes Gesicht.
Sie hatte ein hübsches Gesicht. Dünne, halbkreisförmige Augenbrauen schoben sich nach oben und runzelten die Stirn. Sie hatte hellblaue Augen, eine hübsche Nase, die ganz vorne etwas dick war, einen etwas großen Mund, der aber gut zu ihrem restlichen Gesicht passte. Sie hatte sozusagen harmonische Gesichtszüge.
Ihre schulterlangen, blonden Haare gaben ihr damals immer ein junges Aussehen. Doch seit Stefans Tod schlief sie nicht so viel und Falten ließen sich auf ihrem Gesicht nieder.
Dünn ist sie geworden.
„Ich muss euch etwas Wichtiges sagen.“
Thilo setzte sich. Ihm gegenüber saß Linda und lächelte ihn an.
Sie wird mal bildhübsch, dachte Thilo nur.
„Thilo, ich hatte heute eine 2 minus im Englisch Vokabeltest.“
Thilo sah sie erfreut an. „Dann hat sich es wohl gelohnt mit mir zu pauken, hm?“
„…Ja“ kicherte sie.
Andrea rief die anderen. „Anton, du hast heute verschlafen, was hat der Lehrer gesagt?“
„Ach, der hat gemotzt, wie immer.“
Anton setzte sich neben Linda. Florian und Marie krochen aus verschiedenen Ecken des Hauses hervor und trafen sich auf dem Weg in den Flur.
Sie riefen sich „Idiot“ und „Kuh“ zu, setzten sich im Esszimmer auf den Boden und guckten ihre Mutter erwartungsvoll an.
Andrea musste lachen. „Wie brav ihr jetzt alle schaut. Sieht man ja nicht oft.“
„Komm zur Sache.“ sagte Anton.
Andrea warf ihm nur einen wütenden Blick zu. „Sei nicht so vorlaut.“
„Pah.“ Anton hatte, seitdem er seinen ersten Pickel auf der Nase entdeckt hatte, eine ziemlich pubertäre Phase und zwar die, in der man seine Eltern auf die Probe stellt, sie zur Weißglut bringt und guckt, was man sich erlauben kann. Doch diese alles hielt sich noch in Grenzen.
„Ihr wisst, dass ich neulich bei einem Vorstellungsgespräch bei dieser großen Gärtnerei in Wittenberg war.“
Thilo erinnerte sich. An diesem Tag war seine Mutter außergewöhnlich gut gelaunt gewesen, da sie fest davon überzeugt war, diesen Job zu bekommen. Nach 2 Jahren Arbeitslosigkeit brauchte sie dringend einen Job, damit sie auch mal etwas anderes zu tun hatte als den Haushalt zu machen und sich um die Kinder zu kümmern. Doch ihre Laune, als sie von dem Gespräch zurückkam an diesem Tag war echt mies gewesen, daran konnte sich Thilo noch genau so gut erinnern.
„Sie hatten mich nicht genommen…“
Er war an diesem Tag froh gewesen, dass sie den Job nicht bekommen hatte, sonst wären sie noch in diesem Monat umgezogen. Aber seine Mutter MUSSTE irgendwann wieder arbeiten gehen. Und dass sie in Auenrade, Sommerfeld oder in der sonstigen Umgebung einen Job fand war sehr unwahrscheinlich. Doch irgendwoher musste wieder Geld kommen! Sie konnten nicht immer weiter von Stefans Geld leben.
„…doch jetzt kam ein Anruf. Sie bräuchten dringend eine Aushilfskraft und das so schnell wie möglich.“
Noch aß Thilo ohne Rührung. Noch ist nichts klar.
„Kinder, wir haben kein Geld mehr. Es reicht bald nicht mehr, die Rechnungen zu bezahlen und hier im Dorf finde ich keine Wohnung die frei ist und in der genug Platz für uns alle ist. Und Arbeit finde ich hier auch nicht. In Wittenberg wird mir nun ein Job angeboten, endlich. Und auch noch einer, der mir Spaß machen wird. Wenn wir in eine kleinere Wohnung ziehen, die für uns alle genug Zimmer hat, die aber eine geringere Miete hat und wo ein kleinerer Stromverbrauch herrscht, könnten wir dort unser ganzes Leben mit meinem Verdienst und Papas Restgeld finanzieren. Kein Arbeitslosengeld mehr, dann wären wir gesichert.“ Andrea schaute sich die Gesichter ihrer Kinder genau an und versuchte, genau so überzeugend, wie sie das gesagt hatte, sie anzugucken.
„Du willst also, dass wir umziehen?“ sagte Anton.
„Ja.“ Andrea drehte sich zu ihm um. „Ich habe schon eine Wohnung gefunden, die bezugsfertig ist. Morgen ist Samstag, wenn wir fleißig zusammenpacken und ausräumen, könnten wir schon Montag in Wittenberg ankommen und dort einziehen.“
„Was?“ Linda sah ihre Mutter traurig an. „Ich will hier nicht weg.“
„Ich auch nicht. Und ich komm auch nicht mit!“ sagte Anton.
„Kinder, ich weiß, dass ist nicht einfach für euch und für mich auch nicht. Aber wir müssen das tun. Nur so ist unsere Zukunft gesichert!“
Thilo sah seine Mutter ungläubig an. „Wir ziehen also um. Das steht praktisch schon fest und wir können sozusagen eh nichts mehr dagegen ausrichten?“
„Sozusagen. Ich habe schon den Vermieter angerufen, wir müssen nur den Mietvertrag unterschreiben und können dann einziehen.“
„Nein! Ich will hier bleiben!“ Anton hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch.
„Ich auch. Bei meinen Freunden und dem Kindergarten.“ sagte Marie vorsichtig.
„Das kommt jetzt alles ein bisschen schnell, ich weiß.“ sagte Andrea. „Aber in Wittenberg gibt es auch schon super Schulen! Ich habe euch schon angemeldet.“
Thilo stocherte nachdenklich in seinem Essen herum.
„Mama, was ist mit meinen Freundinnen? Ich wird die doch wohl noch sehen?“ fragte Linda, deren Ton schon Vermuten ließ, dass sie schon fast akzeptiert hatte, dass sie wegziehen würden.
„Klar, aber leider nicht mehr so oft. Ihr findet bestimmt neue Freunde. Vor allem ihr zwei.“ Andrea sah ihre zwei erstgeborenen Söhne an.
„Das ist mir egal! Aber hier ist es so cool, wir haben hier alle riesige Zimmer für uns alleine, wir können im Garten rumlaufen oder auf der Straße und in Wittenberg haben wir dann ne kleine Wohnung mit kleinen Zimmern…“ sagte Anton, jetzt etwas ruhiger.
Thilo starrte nur noch auf sein Essen.
„Was ist mit Oma?“ fragte Florian, der bis jetzt noch gar nichts dazu gesagt hatte.
„Das weiß ich noch nicht. Ich habe schon mit ihr telefoniert. Wir dann natürlich noch weiter auseinander, als vorher. Aber sie hat versprochen oft zu kommen, um mir im Haushalt zu helfen und natürlich um euch zu sehen.“
Oma Emilie war Andreas Mutter. Der einzige Großelternteil von den Kindern, der noch lebte. Sie war eine dünne, sportliche Oma mit langen Haaren. Eine sehr selten zu sehende Oma, normalerweise hatten Omas kurze Haare, waren etwas pummelig und klein. So wie Oma Inge. Doch sie starb bereits zwei Monate nach dem Tod ihres Sohnes Stefan. Wahrscheinlich aus Kummer, dass sie gar keinen mehr hatte. Dass sie einsam starb würde sich Andrea nie verzeihen. Sie hätte sich damals mehr um sie kümmern sollen und nicht selber in Depressionen versinken sollen. Überhaupt hat sie viele Dinge getan, die Stefan nie getan hätte, wenn sie gestorben wäre.
Andreas Vater starb bereits als sie 25 Jahre alt war, an Lungenkrebs. Kettenraucher.
Ihre Mutter hatte seitdem keinen anderen Mann. Und es machte ihr anscheinend nichts aus. Doch die, für eine Oma, riesige Emilie ist auch alt geworden. 78 wird sie bald und ist noch super in Schuss. Sie hatte damals genau das Gegenteil davon getan, was Andrea bei Inge versäumt hatte: Sie hatte Andrea getröstet und dauernd unterstützt.
„Wirklich?“ fragte Marie.
„Oma muss kommen! Ohne Oma ist die Woche gar nicht… gar keine richtige Woche.“ sagte Linda fordernd.
„Wenn sie das schafft.“ Andrea hielt sich die Hand vor den Mund. Jetzt bloß nicht heulen, nicht vor den Kindern. Gut abgewehrt, Gott sei Dank.
„Und unsere Sachen?“ fragte Anton, der mittlerweile ganz ruhig war.
„Die können wir alle mitnehmen. Und die Sachen, dir ihr nicht mehr haben wollt und die schon seit Jahren bei euch auf den Zimmern liegen nehmen wir mit und verkaufen sie in Wittenberg am Samstag nächste Woche auf dem Trödelmarkt.“
Ich habe mir das schon sehr gut überlegt, dachte Andrea und nickte dabei.
„Verkaufen!“ lachte Marie und klatschte.
Es gab nichts niedlicheres, als Marie mit ihren dicken Bäckchen, wie sie sich freute. Oder wenn sie ihren Kopf vergnügt von einer auf die andere Seite neigte und ihre mittlerweile schulterlangen Haare erst auf der einen, dann auf der anderen Seite runter hingen. Jeden Tag tat sie sich kleine Klämmerchen in die Haare, die ihr Pony zurückhielten. Der Niedlichkeitsfaktor konnte kaum noch höher gesteigert werden.
Oder doch? Florian hatte auch diese dicken Bäckchen, die haben beide von ihrem Vater. Die anderen drei hatten eher das schmalere Gesicht ihrer Mutter geerbt. Er hatte auch die Locken von seinem Vater, allerdings in blond, das er wiederum von seiner Mutter geerbt hatte. Würde er der neue Thomas Gottschalk werden? Florian hatte außerdem perfekte Zähne, die hatte er von seiner Mutter, genau wie den großen Mund.
Linda hatte schon mit 11 Jahren ein ausgesprochen hübsches Aussehen, sie hatte die hübsche Nase der Oma, den Kussmund ihrer Mutter und wunderschöne, grüne Augen und eine gute Figur. Aber das war bei allen Rosenberg-Kindern so.
Marie und Florian hatten die braunen Augen ihres Vaters, Anton hatte als einziger die hellblauen Augen von seiner Mutter eins zu eins übernommen und Thilo hatte braun-grüne Augen.
Anton war von allen am athletischsten gebaut. Er hatte die Hakennase von seinem Vater, sonst schien er alles von seiner Mutter zu haben.
Normalerweise würde man sagen, alle Kinder der Rosenbergs sind richtig hübsch. Außer Thilo…
Andrea stieß einen besorgten Atemzug aus. „Kinder, ist das für euch in Ordnung?“
„Ja, ja. Aber ich will dann auch direkt in einen neuen Fußballverein, wenn wir in Wittenberg sind. Die haben da auch viel bessere Angebote, hat der Chris gesagt.“ platzte es aus Anton heraus. „Kann ich jetzt wieder hochgehen?“
„Ich will jetzt telefonieren, mit meinen Freundinnen.“ sagte Linda und wollte aufstehen.
„Mama…“ fing Thilo an. „Du kannst das nicht machen.“
„Aber Thilo, warum denn nicht? Wir können in Wittenberg noch mal ganz von vorne beginnen.“
„Dann haben wir gar nichts mehr.“
„Doch, ihr könnt eure Sachen mitnehmen. Es gibt nur ein Problem. Jeweils zwei Geschwister müssen sich ein Zimmer teilen. Nur einer wird ein Zimmer für sich bekommen können.“
Anton sah Thilo schief an. „Teilen wir uns ein Zimmer?“
„Ich würde vorschlagen, Thilo bekommt ein eigenes Zimmer, weil er der Älteste ist.“ sagte Andrea. „Oder wie siehst du das, Thilo?“
„Wir ziehen nicht um, Mama!“ platzte es jetzt aus ihm heraus und er stand auf.
„Thilo, gerade du müsstest das doch…“
„Du nimmst uns damit alles! Unsere alte Umgebung, unsere Freunde, unser Privatleben. Das ist so scheiße. Wir können uns auch hier ne Wohnung suchen und weiter von Papas Geld leben und mit der Arbeitslosenhilfe.“
Andrea hielt sich die Hand an die Stirn. „Brüll nicht so, davon kriege ich Kopfschmerzen.“
„Warum machen wir das nicht?“ auf Thilos Stirn trat seine Wut-Ader, wie sie gerne genannt wurde, hervor. Seine Geschwister starrten ihn an, waren ganz still und wirkten eingeschüchtert.
„Was?“
„Das was ich grade gesagt habe, hörst du mir gar nicht zu?“
„Doch Thilo, aber zur Zeit hab ich so viel um die Ohren…“
„Was ist mit Oma? Wir können sie nicht einfach…“
„Thilo, Oma kommt schon zurecht.“
Thilo zuckte mit dem linken Augenwinkel. Sag es! „Du hast was viel wichtigeres gar nicht erwähnt.“
Andrea schwieg. Mir scheiß egal, was der meint, dachte sie.
„Was ist mit Papa?“
„Hä?“
„Wir verlassen Papa für immer! Er ist dann ganz weit weg und wir können ihn nie wieder besuchen. Wir können noch nicht mal irgendwas machen!“
„Thilo, wir können auch hier nichts machen.“
„Papa liegt hier auf dem Friedhof und ich kann ihn jeden Tag besuchen!“
Nicht heulen.
„Wir haben doch den Schrein!“
„Ach der Scheiß Schrein!“
Nicht heulen!
„Thilo, was hätte Papa…“
„Fang nicht damit an! Hätte gibt’s nicht, seit dem Tag, an dem Papa die Birne weggeschossen wurde, sagst du solche Wörter hier immer öfter…“
„Thilo!“
Jetzt bloß nicht heulen.
„Ich verpiss mich.“ Thilo rannte aus dem Esszimmer hoch in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett. Sein Kissen sog die Tränen auf und war dann an vielen Stellen schon zu nass, sodass er es umdrehen musste, um einigermaßen trocken darauf zu liegen.
Seine Geschwister, die ihm nachgesehen hatten, hatten unterschiedlich reagiert.
Linda rannte ebenfalls auf ihr Zimmer und fing an zu heulen.
Anton rannte erst zu Thilos Zimmer, versuchte die Tür zu öffnen, aber da sie abgeschlossen war, war es zwecklos und er trabte in sein eigenes Zimmer.
Marie setzte sich auf den Schoß ihrer Mutter, die erst einmal nur so dasaß.
Florian fragte seine Mutter immer weiter: „Was machen wir jetzt? Was ist mit Thilo los? Warum können wir Papa nicht besuchen?“
Warum musstest du auch so eine scheiß bescheuerte Frau heiraten, Alter, dachte Thilo während er sich das alte Foto von seinem Vater und ihm ansah.
Das Bild war das letzte, wo sie beide zusammen waren, bevor sein Vater starb. An dem Tag war er grade mal 13 gewesen, oder? Sein Gedächtnis hatte dieser Tag leider nicht so wirklich abgespeichert, da es ein Tag wie jeder andere war. Einfach mal so ein Foto gemacht und nicht gewusst, dass es das letzte von ihm seinem Papa war. Auf diesem Bild wirkte alles noch so perfekt, so idyllisch. War es das jetzt noch? Nicht wirklich. Es war so idyllisch wie es in einem Kaff wie Auenrade nur sein konnte, aber das wirkte nur von Außen so. Jeder in diesem Kaff hier wusste, dass seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes schlimme Depressionen hatte, immer. Sie war zwar immer noch in diesem Verein den irgendwelche spießigen Dorfbewohner, die wahrscheinlich schon längst alte Säcke waren, die auf Veranstaltungen auf dem Dorfplatz immer als „Ehrenbürger“ benannt wurden, gegründet hatten. Verein zur Erhaltung von Auenrade e.V.
Oft hatten Andrea und Stefan in ihrem Haus zu Besprechungen mit Kaffee und Kuchen eingeladen und alle dachten die Rosenbergs wären die perfekte Familie.
Doch jetzt denkt das keiner mehr. Nach Stefans Tod wurden Gerüchte immer lauter, die Ehe wäre nie harmonisch gewesen und die Kinder wirkten ja auch so unglücklich, ach ja, wie furchtbar das sein muss und jetzt, wo der Vater auch noch ganz weg ist, geht es ihnen noch schlechter. Hast du es schon gehört? Was? Ihr ältester kommt jetzt fast gar nicht mehr raus. In der Schule sind sie auch schlechter geworden. Alle der älteren Kinder. Andrea kriegt das wohl nicht mehr auf die Reihe. Ja, sie scheint sich mehr darum zu kümmern, genug Geld für ihren Alkohol zusammen zu bekommen, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Das ist ja schrecklich! Ja, nicht wahr? Aber sie ist noch in unserem Verein? Ja. Ob sie aussteigt, was denkst du? Bestimmt, sie hat keine Zeit mehr, um sich irgendwie für das Dorf zu engagieren. Hoppla, da ist ja der Thilo! Lauf doch nicht weg, Junge! Hat er uns jetzt belauscht? Ich denke schon, er saß die ganze Zeit hinter dem Baum da! Ein richtig unverschämtes Kind, nicht wahr?
Ach, wie er diese Dorfmenschen hasste. Alle Tratschtanten, die vorne rum immer gut, großzügig und freundlich wirkten und hintenrum logen, über alles herzogen und sich auch noch dazu berechtigt fühlten. Nicht, dass seine Mutter früher nicht auch so war. Aber seit dem Tod ihres Mannes musste sie sich schon tolle Sachen anhören, dass hatte Thilo sehr wohl mitbekommen, auch wenn sie so tat, als wäre nichts gewesen.
Aber in der Schule war es bei ihm nicht anders. Die Kinder bei ihm waren immerhin schon 13, die hatten teilweise Mitgefühl für ihn, aber einigen war es auch total egal. Für Linda oder Anton war es dann doch schwieriger, wenn die kleinen Kinder sie fragten: Warum bist du auf einmal so komisch? Du redest gar nicht mehr mit uns! Und wenn dann ihre Mütter ihnen sagten, es sei eine ganz traurige Geschichte und sie sollten das arme Kind doch in Ruhe lasse, taten sie es. Doch dann, beim Abendessen sagten ihre Eltern ihnen, dass die Kinder ja total bescheuert werden müssten, wegen dem Tod des Vaters und weil ihre Mutter sie vernachlässigt.
Am nächsten Tag wurde Linda dann mehrmals an den Kopf geworfen, sie sei doch verrückt. Tja, so war das eben.
Linda sonderte sich am schnellsten von den anderen Kindern ab. Aber sie fand auch am schnellsten wieder zu ihnen, zu denen, mit denen sie sowieso befreundet waren.
Bei Anton war es anders, er konnte irgendwann gar keine anderen Kinder mehr leiden und hatte auch kaum Freunde. Außerdem schlug oder trat er direkt alle Kinder, die ein Wort über seinen Vater sagten.
Thilo dachte an seine Zeit. Jeder Tag kam ihm irgendwie so lang vor und im Nachhinein so kurz, denn, was hatte er in dieser Zeit getan? Irgendwann meinten auch die Kinder in seiner Klasse, er wäre ein wenig weggetreten von der restlichen Welt.
Und dann wechselte er die Schule.
Und was war mit seinen besten Freunden von damals? Philipp war tatsächlich in die Stadt gezogen, nach Köln, und Thilo hatte nie wieder was von ihm gehört.
Pille wohnte zwar immer noch hier, aber er war nicht mehr dauernd zu Besuch. Er war immer noch Thilos engster Freund. Das hieß, dass sie sich vielleicht ein oder zwei Mal in der Woche trafen, um irgendwas zu machen oder einfach zum Reden. Öfters waren auch andere Freunde von Pille dabei. Während solchen Ausflügen hielt sich Thilo immer recht ruhig. Zum Glück hatte er irgendwann sozusagen wieder das Sprechen gelernt und war etwas gesprächiger geworden.
Früher war er der Klassenclown. Gerne laut, recht gesprächig, hilfsbereit und freundlich. Und was bin ich jetzt?, fragte er sich. Schüchtern oder um es anders auszudrücken: nicht kontaktfreudig. Vielleicht war das ganz gut so, bei den Pfeifen, die hier in dem Kaff wohnten. Außer Pille stinken die doch alle. Obwohl, konnte er das überhaupt sagen? Bei vielen hatte er einfach mit seiner häufigen schlechten Laune einen schlechten Eindruck hinterlassen, so dass sie ihn nie ansprachen. Und wenn er mal gut gelaunt war, traute er sich nicht die anderen anzusprechen oder er sprach sie an und es kam nicht mehr als Gesprächsstoff heraus als Schulfächer oder Lehrer. Kannte er überhaupt alle seine Klassenkameraden, oder andere Jugendliche aus seinem Alter, die von hier waren richtig?
Er sah sich wieder das Foto an.
Bald sind wir hier weg. Sie wird das durchziehen. Dann kann ich dich nie mehr besuchen und dir meine Sorgen erzählen. Und die alten Leute auf dem Friedhof werden mich nie wieder anglotzen wie ein Tier im Zoo, das herumspringt, weil es verrückt geworden ist.
Was sollte das eigentlich? Papa war tot, unter der Erde. Thilo war sich zwar sicher, dass er überall da war, aber er brauchte es einfach, zu einem Ort hinzugehen, wo sein Vater eine Bedeutung hatte. Aber hatte er das nicht überall?
Wir ziehen also um. Eine kleine Wohnung in Wittenberg, eine Großstadt. Wittenberg, darüber kam doch schon mal eine Dokumentation im Fernsehen über Jugendkriminalität. Wittenberg war groß, bestimmt zehn Mal so groß wie Auenrade oder Sommerfeld zusammen. Und vor allem lebten auch zehn Mal so viele Leute dort. Und das auf einen Fleck. Hektisches Stadtleben, so hieß doch mal ein Video, das sie in der Schule geschaut hatten, oder? In Sozialkunde, oder?
Sehen wir mal die positiven Seiten des Umzugs, keine nervigen Dorfspießer, keine nervigen Vereine zur Erhaltung von irgendwas, keine nervigen Kaffeekränzchen…
Und ein völliger Neuanfang für Thilo. Ich kann noch mal ganz neu anfangen! Eine neue Schule, neue Leute, neue Umgebung. Ja, so schlecht war der Umzug doch gar nicht.
Er sah wieder das Bild seines Vaters an. Er lächelte ihn an. Er fehlte einfach. Seine schlechten Witze, seine Ratschläge, sein blöder, kratziger Schnurrbart, seine Vergesslichkeit. „Wo habe ich denn jetzt wieder meine dämlichen Pantoffeln gelassen!“
Thilo konnte gar nicht glauben, dass irgendjemand einfach seinen Vater erschossen hatte. Aber daran wollte er auch gar nicht mehr denken.
Gut, aber wenn sie umzogen, war Papas Grab weg. Und nicht nur das, Oma war auch ganz weit weg. Jetzt würde es noch stressiger werden und er würde seiner Mutter noch mehr helfen müssen, als er es jetzt schon tut.
Ich will wenigstens das einzelne Zimmer. Mit Anton halte ich es den ganzen Tag gar nicht aus.
Er schaute auf die Uhr. Er hatte eineinhalb Stunden im Bett gelegen und stand jetzt mit einem Ruck auf und streckte sich. Wie groß dieses Zimmer war. Er ging zu seinem Fenster und machte die Vorhänge auf die Seite, die er diesen Morgen noch gar nicht angefasst hatte. Es waren schicke, altmodische rote Vorhänge, mit Kordeln dran. Er sah, dass die Sonne wieder schien und drehte sich um.
Sein Fernseher und die Playstation 2 standen in der Ecke. Ganz ohne Anton, das war ein seltener Anblick. Thilo las lieber Bücher, anstatt Videospiele zu spielen. Aber er ging auch gerne an den Computer und schrieb selbst welche, die aber generell nie fertig wurden, weil er an den Tagen, an denen er mal Lust zu Schreiben hatte, keine Zeit hatte oder weil er einfach eine Idee hatte, die ihm besser gefiel.
Er ging hinunter ins Wohnzimmer. Würde er seine Mutter sehen, würde er nicht mit ihr reden. Im Flur ging er an der Küche vorbei und sah durch das Glas, das in der Mitte der Holztüre war, seine Mutter in der Küche an dem kleinen Küchentisch sitzen. Mit einem Glas oder so was.
Er ging also weiter ins Wohnzimmer zu dem kleinen, schicken Holzstich, in dem ein Bild eingeschnitzt war und nahm den Telefonhörer von der Ladestation ab, die auf dem Tisch stand und wählte Pilles Nummer.
„Löffler.“
„Hallo Frau Löffler, hier ist Thilo. Kann ich Philipp sprechen?“
„Einen Moment.“
Da Thilo damals immer nur was mit Philipp und Pille unternommen hatten, und Pille eigentlich auch Philipp hieß, hatten sie ihm diesen Spitznamen gegeben, weil er früher ständig Pillen nehmen musste. Er hatte sie wegen irgendeiner Leberkrankheit nehmen müssen und mittlerweile hatte sich der Spitzname Pille, auch nachdem der andere Philipp weggezogen war, so sehr in Thilos Hirn gebrannt, dass es ihm richtig schwer fiel, am Telefon nicht Pille, sondern Philipp zu sagen, da Pilles Eltern den Spitznamen gar nicht mochten und wie sie es ausdrückten „auch nicht tolerieren werden“.
„Hi, Thilo. Was geht?“ fragte Pille, der das e beim Wort „geht“ immer so lang wie möglich zog, sodass es gerade noch erträglich war.
„Ich.“
„Wie?“
„Wir ziehen um.“
„Hä? Warum das denn? Wann?“
„Meine Mutter sagt, dass wir Montag schon in Wittenberg sind.“
„Wittenberg? Ach du scheiße… Warum fahrt ihr denn in so ne scheiß Stadt?“
„Weil meine Mutter da Arbeit gefunden hat und so ne Wohnung, die viel günstiger ist, als das Haus.“
„Wie scheiße.“
„Ja. Sollen wir noch was machen, bevor ich endgültig weg bin?“
„Klar, lass mal ins Kino gehen oder so. Kommen zu Zeit echt geile Filme.“
„Find ich auch ne gute Idee.“
„Wie wär’s mit Morgen?“
„Ja.“
„Gut, kann Kathi auch mitkommen?“
„Wenn du unbedingt willst.“
„Klar, Alter, ich bin mit der zusammen. Ich würd’ sie am liebsten überall mit hinnehmen.“
Thilo schmunzelte. Wenigstens hat er jemanden, der ihn richtig lieb hat. Im Gegensatz zu mir, dachte er dann und sein Schmunzeln verschwand wieder von seinen Lippen.
„Also? Bis Samstag dann?“
„Jo, bis Samstag. Aber wann denn? Ich weiß nämlich nicht, ob ich noch viel beim Packen helfen muss oder so.“
„Sagen wir halb drei bei mir?“
„Okay. Bis dann.“
„Tschüss.“ Normalerweise hätte Pille noch einen Spruch wie „hau rein“ „mach’s gut“ oder „werd’ größer“ abgelassen, aber er fand das bei Thilo so unangebracht. Er würde nie richtig rein hauen, es gut machen oder größer werden.
Thilo legte leicht erfreut auf. Er musste allerdings noch eine Sache erledigen, die nicht mehr warten konnte. Er ging in den Flur, schnappte sich seine Jacke, den Schlüssel und ging nach Draußen.
Es war frisch, der Wind war kalt, aber die Sonne war wärmte. Thilo ging die Treppe hinunter und drehte sich unten auf dem Weg zur Straße noch einmal um und sah sich das Haus an. Es ist ein tolles, großes Haus, dachte er.
Aber er ging weiter. Ich mache jetzt Schluss mit Auenrade.
Auf dem Bürgersteig begegneten ihm einige Nachbarn die er grüßen musste sowie umgekehrt. Das würde ihm in Wittenberg wohl auch nicht erspart bleiben, aber vielleicht waren da ja nettere Nachbarn.
Er ging an der Bäckerei vorbei und um die Ecke, als er am Friedhof angekommen war.
Er hielt sich gerne im Friedhof auf.
„Hey, Thilo!“ es war der Friedhofswärter, der gerade die Hecke schnitt, der ihn begrüßte. Thilo war schließlich ein Stammgast.
„Hallo. Heute ist die Hecke dran?“
„Wie du siehst.“ sagte er und schnitt weiter.
Die Hecke um den Friedhof war schön grün. Wenn man von Außen auf den Friedhof zuging, sah man nur die obersten Teile der Hecke, weil davor noch eine Mauer aus dunklem Stein war, die dem Friedhof etwas Finsteres verlieh.
Thilo ging auf dem Kiesweg an den Gräbern vorbei. Mittlerweile kannte er alle Namen der Verstorbenen. Bei manchen wusste er sogar die genauen Geburts- oder Sterbejahre. Teilweise waren es uralte Gräber, die auch richtig klasse aussahen. Manche sahen auch unheimlich aus, zum Beispiel ein Familiengrab, wo ein weinender Engel darüber stand. Der älteste Verstorbene aus diesem Grab war 1894 gestorben, also ein richtig altes Grab. An diesem ging er aber eher selten vorbei. Er hatte ja auch ein anderes Grab als Ziel.
Wilhelm Fischer, geboren 1902, gestorben 1978; Anna Fischer, geboren 1904, gestorben 1989; Jasper Fischer, geboren 1923, gestorben 1999; Melanie Fischer, geboren 1925…
Die Familie Fischer war ganz schön groß. Dann kam das Ehepaar Wendel, Else und Richard, Gertrud, Helga, Hans, Theodor, Kurt… und Stefan.
Stefan Rosenberg stand in kunstvoller, schnörkeliger Schrift auf dem eher einfachen Grabstein. Stefan Rosenberg, geboren 1963, gestorben 2003
Thilo stand vor dem Grab seines Vaters und blickte es einfach so an. Auf dem Grab wuchsen viele bunte Blumen. Thilo hatte keine Ahnung, ob es Stiefmütterchen, Narzissen oder Tulpen waren. Na ja, Rosen würde er sicherlich erkennen, aber die wuchsen dort nicht. Sie hatten alle zusammen die Blumen ausgewählt und es waren alle hübsche, kleine, farbenfrohe Pflänzchen. Ein kleiner Teil des Bodens über dem Grab war allerdings nicht mit Blumen bedeckt, sondern es war einfach ein Marmorstein auf dem eine Kerze in einem roten Behältnis stand. Bei vielen Gräbern waren es einfache Lampen, aber sie wollten Kerzen, weil sie das beschlossen hatten.
Die Himmel war Blau und nur einzelne Wölkchen bedeckten ihn. Der Wind pfiff durch die allmählich abfallenden Blätter des alten Kastanienbaums an der Ecke. Auf dem Friedhof standen fast überall Bäume. Thilo fand das auch viel schöner, als wenn im Sommer die Sonne auf die Gräber knallte. In der Hecke saß ein kleiner Vogel. Und oben flogen die großen Vögel. Und als Thilo die Vögel singen hörte, verabschiedete er sich von dem Grab seines Vaters.
Als er auf dem Rückweg durch den Kies ging und bei jedem seiner Schritte der Kies unter seinen Schuhen knirschte, ertönte auf einmal eine weiche, ihm bekannte Stimme:
„Thilo, du bist auch hier!“
Er drehte sich um und sah Linda auf dem Weg parallel zu ihm stehen.
„Ja.“ sagte er in einem gleichgültigen Tonfall und ging auf sie zu. „Warum bist du hier? Der Weg hier geht viel schneller.“ sagte er und zeigte hinter sich.
„Ich find den anderen aber schöner. Außerdem wollte ich mir den Friedhof hier noch mal genauer anschauen, weil wir ja jetzt längere Zeit nicht mehr hier sind.“
„Ich sag Mama, sie soll öfters mit uns hier hin fahren.“
„Ja.“ sagte Linda und schaute mit zugekniffenen Augen in Richtung Sonne. „Anton ist auch hier.“
„Wo?“
„Er müsste eigentlich bei Papas Grab sein… Gehen wir zusammen hin?“
„Okay.“
Anton hockte am Grab seines Vaters und trug nun eine Kappe. Entweder trug er eine, wenn seine Haare doof aussahen, wenn es kalt draußen war oder wenn er heulen wollte, ohne dass es jemand bemerkte.
Als er Linda und Thilo sah stand er auf. „Ihr seid auch hier?“
„Sieht wohl so aus, du Genie.“ antwortete Thilo. Linda lachte.
„Halt die Fresse.“ sagte Anton in seinem zickigen Tonfall. „Die blöde Kuh neben dir hat mich sicher nur verfolgt.“
„Stimmt nicht, du Affe.“
„Leute, wir stehen hier vor Papas Grab und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu beleidigen?!“ sagte Thilo und schüttelte demonstrierend den Kopf.
Verlegen sahen sich Linda und Anton an.
„Tut uns Leid, Papa.“ sagte Anton und starrte auf das Grab seines Vaters.
Jetzt standen sie in einer Reihe nebeneinander. Von links nach rechts der Größe nach geordnet: Thilo, Anton, Linda. Obwohl Linda vielleicht bald Anton einholen konnte, wenn er nicht endlich seinen Wachsschub bekam.
Und als Thilo sah, wie sich ein Sonnenstrahl durch die Blätter des Kastanienbaums auf den Grabstein seines Vaters einen Platz erkämpfte, wusste er, dass er sich richtig verabschiedet hatte.
Ich schreibe seit ein paar Monaten an meiner mittlerweile dritten Story und hoffe, diese endlich fertig zu bekommen.
Vorweg: Sie hat nichts mit Fantasy zu tun, es handelt eher vom Leben, dem Tod, der Jugend, Veränderung, Intrigen, Zerstörung, Glück.... ach ich kanns nicht zusammenfassen. Ich habe erst einmal den Prolog, das erste und zweite Kapitel veröffentlicht, bin zur Zeit bei dem 6. Kapitel, habe momentan leider wenig Zeit.... falls Interesse vorhanden ist, mehr zu lesen könnte ich die weiteren Kapitel veröffentlichen oder per email etc. schicken. Leider bin ich nicht dazu gekommen selbst noch mal die Geschichte auf Fehler zu überprüfen, wenn ihr welche findet ruhig posten, danke!
Als Thilo die Vögel singen hörte
Prolog
Vögel singen immer
Als Thilo die Vögel singen hörte, drehte er sich noch einmal in seinem Bett um, direkt zur Wand. Jetzt bloß nicht wach werden. Die blöden hellen Sonnenstrahlen, die anscheinend direkt auf sein Gesicht ausgerichtet waren, mussten ihn ja wecken. Wie viel Uhr war es? Nicht auf die Uhr schauen. Der Wecker wird gleich klingeln, entspann dich bis dahin wenigstens ein kleines bisschen. Doch seine Neugier siegte. Er richtete sich auf und sah auf die Uhr. 6: 45 zeigte sein digitaler Radiowecker an. Sein Vater hatte ihn ihm geschenkt, weil er irgendwann mal behauptet hatte, er würde gerne Radio hören.
So ein Blödsinn, da war ich gerade mal 11 oder so, dachte er nur. Das Radio ging ihm, seitdem es jeden Morgen um 7: 15 Uhr klingelte tierisch auf die Nerven.
Aber er hatte noch eine halbe Stunde Zeit! Toll, was brachte ihm das? Zu kurz um noch einmal einzuschlafen, zu lang um schon aufzustehen.
Er legte sich wieder hin, wand sich zum Fenster und sah nach draußen.
Was für ein Kaff, dachte er nur. Vor ihm lag nichts als Wald. Da er im ersten Stock wohnte, sah er von seinem Fenster aus natürlich nicht den großen, grünen Garten. Brauchte er auch nicht. Der war voller Kinderspielzeugen.
In seinem Zimmer war noch angenehm kühl, da er über Nacht das Fenster offen gelassen hatte. Doch über den Tag würde es sich sicher wieder aufwärmen.
Er drehte sich wieder um, drückte die Decke an sich und dachte nach. Diese Mädchen aus seiner Klasse, sie war einfach toll. Wenn er sich doch nur zutrauen würde mit ihr zu sprechen!
Seit Wochen kann er schon an nichts anderes denken.
Das Gejodel von irgendeinem Schlagersänger riss ihn aus seinen Gedanken und er zuckte zusammen. Mit einem lauten Knall schaltete er den Wecker aus. Aufstehen ist angesagt. Normalerweise würde das bei ihm länger dauern, aber heute ist geht es richtig schnell.
Nachdem er sich angezogen hatte, lief runter in die Küche.
„Morgen Thilo.“ sagt seine Mutter, die dabei die Pausenbrote für ihre Kinder schmierte.
„Schon so früh heute?“
„Morgen Mama.“ antwortete er. „Was frühstücken wir heute?“ gierig schaute er dabei hinüber ins Esszimmer.
„Müsli, es steht auf dem Tisch.“ sie drehte sich zu ihm und sah ihn an. „Aber wartest du nicht noch auf deinen Vater und deine Geschwister?“
Thilo verdrehte die Augen. Ja aber natürlich, wie konnte er nur seine Geschwister vergessen, vor allem, wo er so viele hatte. Sein Bruder und seine Schwester reichten ihm schon, doch vor 3 Jahren musste seine Mutter ja auch noch Zwillinge zur Welt bringen.
„Ich setze mich schon mal hin.“ sagte er und ging vergnügt ins Esszimmer und setzte sich artig hin.
„Morgen Schatz.“ nach diesem Satz folgte immer ein unüberhörbares Schmatzen, wie er es hasste, wenn sich seine Eltern küssten. Aber da war sein Vater, der jetzt ins Esszimmer kam!
„Morgen Papa!“ sagte Thilo vergnügt und wackelte nervös auf seinem Stuhl herum.
Warum er so nervös war? Sein Vater hatte ihm etwas versprochen. Und er musste es heute einhalten.
„Morgen Thilo.“ sagte dieser ruhig und setzte sich an den Tisch mit seiner Zeitung und einer Tasse Kaffe in der Hand.
Thilo sah ihn erwartungsvoll an, sagte aber vorerst nichts. Schließlich musste er seinen Vater auch mal auf Probe stellen.
Sein Vater lächelte. „Du schaust so erwartungsvoll, als wenn ich dir versprochen hätte mit dir, und nur mit dir, endlich zu einem Basketballverein zu gehen, um dich dort anzumelden, hm?“
„Ja und ich bin schon ganz nervös, ob sie mich gut finden werden.“ sprudelte es aus Thilo heraus.
„Na ja, wir haben ja oft genug geübt. Dir wird es gefallen. Ich habe genau in deinem Alter mit diesem Sport angefangen und es war die einzige Sportart, die ich so gut konnte, dass ich nicht als letzter, sondern als erster im Schulsport gewählt wurde, wenn wir Basketball gespielt haben.“
Thilo lachte. „Aber ich muss noch wachsen. Ich bin zu klein.“ sagte er etwas wütend auf sich selbst. Sein Vater war 1,90 groß! Warum konnte er nicht auch so groß werden?
„Das wird schon werden. Du bist doch erst 13, da war ich auch noch nicht so groß.“
Thilo nickte.
Seine Mutter brachte die Getränke und mit ihr spazierte auch Thilos jüngerer Bruder Anton, unbekümmernd pfeifend, ins Esszimmer.
Er setzte sich gegenüber von Thilo und schnitt ihm Grimassen.
„Man kann auch Guten Morgen sagen, du Penner.“ sagte Thilo, wobei er kritisch zu seinem Bruder starrte.
„Thilo, sag das nicht noch einmal.“ schimpfte seine Mutter, die sich schon wieder umdrehte, vermutlich um Linda zu wecken.
„Ja, Thilo, wirklich.“ grinste Anton.
Die Mutter blieb stehen und sah beide tadelnd an. „Anton, du hättest natürlich auch uns allen einen Guten Morgen wünschen können.“
„Ja, hab ich aber nicht.“ erwiderte er.
„Stefan, sag doch auch mal was dazu!“
Der Vater sah zu seiner Frau und sagte dann: „Anton, sag uns jetzt gefälligst allen wenigstens ‚Morgen’, sonst kannst du dein Rennauto ganz vergessen. Und Thilo, benutze das Wort ‚Penner’ nur noch, wenn wir nicht im Raum sind.“
„OK. Hauptsache ich darf so coole Wörter benutzen.“ nickte Thilo.
„Morgen.“ sagte Anton ein wenig schmollend.
Einige Minuten sagte niemand etwas. Thilo und Anton sahen sich übereinstimmend ein und beschlossen, schon einmal ohne die anderen anzufangen.
Die Mutter und Linda waren endlich da und aßen jetzt auch.
„Mama, ich habe mir heute eine tolle Frisur überlegt, die ich mir machen könnte.“ sagte Linda.
„Wirklich? Na erst einmal müssen wir deine Haare bürsten.“
„Oh Gott, Mädchen.“ sagte Anton nur nach oben blickend.
Thilo sagte nichts dazu. Mittlerweile hatten sich Mädchen zu etwas besserem als nervige Zicken entwickelt, jedenfalls für ihn.
„Was ist mit den Kleinen?“ fragte der Vater die Mutter.
„Die schlafen noch.“
„Im Ernst? Das ist ja unfassbar. Ich habe mich schon gewundert, dass sie hier noch kein Chaos veranstaltet haben.“
„Da siehst du mal, wie brav unsere Kinder sind.“ die Mutter hielt die Hand des Vaters und sie lächelten sich an.
„Ich muss los Schatz.“
Die Mutter sah auf die Uhr. „Oh ja, die Kinder müssen auch langsam, der Schulbus fährt schließlich nur um eine Uhrzeit vorbei.“
Die Familie Rosenthal lebte recht abseits von der eigentlichen Stadt, die selbst nicht einmal sehr groß war, sodass die drei ältesten Kinder immer vom Schulbus abgeholt werden wurden.
„Und vergiss nicht unsere Vereinbarung Papa!“ sagte Thilo noch zu ihm.
„Natürlich nicht. Versprochen. Ich muss heute auch nicht lange arbeiten, also ist es kein Problem.“ er zwinkerte ihm noch zu und ging dann in den Flur um dort seinen Aktenkoffer zu nehmen und zu verschwinden.
Stefan Rosenthal arbeitet als Rechtsanwalt noch weiter weg, als die Schule der Kinder lag. Er fuhr jeden Tag mit seinem ‚Dienstauto’, ein älteres Mercedes-Modell, pünktlich los, erschien immer pünktlich zur Arbeit und machte seine Arbeit gut.
Andrea Rosenberg arbeitete zu Zeit gar nicht, früher hatte sie in einem Blumengeschäft im Dorf gearbeitet. Seit der Geburt von Anton hatte sie den Job ganz aufgegeben.
Sie liebte ihre Kinder sehr und war somit auch bereit dafür, sich für sie aufzuopfern. Das hieß auch, oft jeden Tag dasselbe zu machen. Doch es machte ihr nichts aus. Auch die unerwarteten Zwillinge waren kein Problem, höchstens ein finanzielles, aber für diese Dinge war sie ja nicht verantwortlich, sondern Stefan. Jeden Morgen brachte sie die Kleinen jetzt in den Kindergarten und machte in dieser Zeit das Haus sauber. Eine Putzfrau hatte sie immer abgelehnt.
Thilo, Anton und Linda standen zusammen mit den anderen Kindern aus der kleinen Straße an der Bushaltestelle. Thilo stand auf seinem Ranzen und machte einen Politiker nach. Die Kinder amüsierten sich.
„Thilo, du bist so ein Kleinkind!“ rief ein Mädchen in seinem Alter.
„Ist mir doch egal.“ rief er nur zurück.
Es wurde wärmer. Der Schulbus kam und alle Kinder stiegen brav ein.
Andrea weckte Marie und Florian um sie zum Kindergarten zu fahren. Danach machte sie die Betten, schrubbte die Böden, staubsaugte.
Das Telefon klingelte. Huch, wer könnte das sein? Bestimmt ein Freund von Stefan, der nicht wusste, dass er heute arbeitet.
„Rosenberg.“ meldete sie sich freundlich am Telefon.
Die Person am anderen Ende klang besorgt und sehr ernst.
Auf dem Pausenhof herrschte reger Verkehr. Thilo stand bei seinen Freunden und lachte über ihre Witze.
„Hey, Thilo, hast du heute Zeit? Wir können ja mein neues Videospiel spielen.“ schlug Philipp, sein bester Freund, vor.
Stolz antwortete er: „Nein, ich gehe heute mit meinem Vater zu einem Basketballverein.“
Misstrauisch schaute Philipp ihn an. „Du bist viel zu klein.“
„Ja ja, du bist nur neidisch. Und beleidigt, weil ich keine Zeit hab.“
„Stimmt nicht!“
„Wir können morgen noch was machen.“
„Tja, morgen habe ich aber Klavierunterricht. Ätsch.“ sagte Philipp in seinem Ich-meine-das-nicht-ernst Ton.
Thilo lachte und fragte dann: „Warum stehen wir hier eigentlich noch?“
„Wir warten auf Pille?“
„Achso, stimmt, hatte ich schon fast vergessen.“
Pille war Thilos anderer bester Freund sozusagen. Er war vielleicht etwas durchgedreht, aber sonst ein echt cooler Typ.
Nachdem er endlich angekommen war, schlenderten die drei Jungs von der Schule aus zur Haltestelle und warteten auf den Bus.
Das Schild der Bushaltestelle war schon veraltet, so wie alles in diesem Kaff, wie Thilo fand. Das sagte sein Vater auch immer. Aber in solchen Dörfern könnte man am sorglosesten leben, sagte er immer.
Vielleicht hatte er Recht. Große Sorgen um irgendwelche Dinge musste sich Thilo noch nie machen. Er war gut in der Schule, hatte jeden Tag etwas zu tun…
Doch sie hatten Recht. Alle, die es behaupteten: Thilo war unglaublich kindisch.
Möglicherweise lag es an seinen kleinen Geschwistern oder daran, dass er kaum Verantwortung übernehmen musste oder daran, dass er einfach gerne Kind war.
Doch eins war er, was nicht unbedingt alle Kinder waren: nachdenklich.
War er noch ein Kind oder sozusagen schon ein Jugendlicher?
Als Thilo die Vögel singen hörte und dann das brummende, zufriedene Geräusch des alten Schulbusses zu hören bekam, stieg er ein.
Sein Bruder und seine Schwester waren vermutlich schon Zuhause. Linda ging noch auf die Grundschule, schließlich war sie erst 9, Anton und er gingen auf das gleiche Gymnasium, aber Anton hatte früher Schule aus. Er war der beste von den Geschwistern in der Schule. Aber kein Wunder, wenn seine Eltern ihm gesagt hatten, er solle lieber fleißig lernen als sich mit Kindern zu treffen, hat er dies auch befolgt. Gehorsam war er, ja.
„Voll kindisch.“ sagte Pille.
„Was?“ fragte Thilo.
„Das so viele Kinder bei uns auf der Schule noch Fangen spielen und Seilchen springen.“
„Ja.“
„Ich habe gehört, in größeren Schulen sei viel mehr los. Da machen die Jugendlichen was SIE wollen und nicht was die scheiß Lehrer wollen.“
„Echt?“ Thilo sah zu erst Pille, dann Philipp an, der nur gleichgültig dreinblickte.
„Ja, da läuft das wohl ganz anders ab, als hier.“
„Kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Philipp seufzte. „Vielleicht ziehen ich und meine Eltern in die Stadt.“
„Warum?“ fragte Thilo.
„Weil mein Vater dort eine bessere Arbeitsstelle angeboten bekommen hat.“
„Krass.“ meinte Thilo. „Wie findest du das?“
„Scheiße, ich will hier nicht weg, hier hab ich schon immer gewohnt.“
„Irgendwie kann ich mir das auch nicht vorstellen.“ pflichtete Thilo bei.
„Na, ich schon.“ meinte Pille.
„Ach?“
„Klar. Das ist so wie hier, nur viel besser. Wie ich schon gesagt hab.“
„Rauchen die da nicht irgendwie schon voll früh?“ fragte Philipp.
„Ja.“ antwortete Pille. „Und sie machen Partys. Da wird auch Alkohol getrunken.“
Philipp sah Pille verwirrt an. „Was isn das?“
„Oh Gott. Das ist das, was auch in Bier drin ist, was mein Vater trinkt. Wenn ich mal alt genug bin, trinke ich das auch, genau wie er.“ sagte Thilo nickend.
„Ha, in der Großstadt trinken die das auch schon früher.“ meinte Pille.
„Woher willst du das eigentlich wissen?“ fragte Thilo skeptisch.
„Na mein Cousin. Der kommt doch daher, der hat mir das erzählt. Ich war auch schon bei dem zu Besuch, da hatte er auch voll viele Freunde zu Besuch und die haben sich so komische Dinge gedreht, ich glaube, das waren Zigaretten.“
„Boah. Cool.“
„Meine Mutter sagt, die sind schlecht für die Gesundheit.“ sagte Philipp.
„Meine auch. Aber die sagt viel, sagt auch Papa.“ grinste Thilo.
„Und du gehst heute Basketballspielen?“ fragte Pille höhnisch grinsend.
„Ja, und?“ sagte Thilo und erwartete dabei schon einen blöden Witz.
„Nichts. Ist doch cool, vor allem wenn dann alle den kleinen Zwerg auf dem Spielfeld übersehen.“
„Du bist ja auch nicht viel größer als ich, also halt mal die Klappe.“
„Pah.“ lächelte Pille.
Der Bus hielt an Thilos Straße.
„Oh, wir sind schon da. Komm Philipp! Bis Morgen, Pille.“
„Ciao.“ sagte Pille und die beiden Jungs stiegen aus.
„So ich gehe jetzt essen und dann spiele ich alleine meine Videospiele.“ sagte Philipp.
„Morgen spiele ich mit, versprochen.“ antwortete Thilo.
„Bei mir gibt’s Spaghetti.“
„Bei mir… weiß ich gar nicht. Ich habs vergessen! Ich muss den ganzen Tag ans Basketball denken, das wird super.“
„Dann bis morgen.“
Thilo schloss die Tür auf und stieß ein lautes „Hallo“ ins Haus. Doch niemand antwortete.
Er legte seinen Rucksack erst einmal auf dem Flur ab, als ihm Marie entgegenkam.
„Hey, Mariechen.“ sagte Thilo.
„Mama weint.“ sagte sie zu ihm.
„Warum?“ Thilo war erschreckt. Doch nicht so sehr. Vielleicht hatte sich seine Mutter nur wieder einen traurigen Film angeguckt.
Er ging in die Küche und sah nichts auf dem Herd, im Esszimmer standen keine Teller. Er wunderte sich. Dann ging er ins Wohnzimmer.
Ein Fenster war weit geöffnet und davor stand ein Putzeimer.
Seine Mutter saß auf dem Sofa. Aber nicht so, wie sie sonst saß. Sie saß dort, zusammengekauert und strich sich mit ihren Händen dauernd über ihre Beine. Ihre braunen, leicht welligen Haare hingen ungeordnet über ihrem Gesicht, sodass man es gar nicht sehen konnte. Dann schaute sie zu Thilo auf.
Er erschreckte sich fürchterlich. Sie hatte ein ganz rotes Gesicht, rote, kleine Augen und die Nase lief. Vor ihr lag eine Packung Tempos, von dem sie eins nahm und sich die Nase putzte. Dann schluchzte sie.
„Mama?“
Sie antwortete ihm nicht.
„Mama, ist was passiert?“
Sie antwortete ihm immer noch nicht.
Er ging auf sie zu und blieb dann kurz vor ihr stehen, als wenn er noch einmal genau hinschauen zu müssen, um sich zu vergewissern, ob das was er sah, auch wirklich so war.
Mama antwortet doch sonst immer!
Marie tapste leise ins Zimmer.
„Mama, hör auf zu weinen!“ rief sie. Sie hatte einen verzweifelten Gesichtsausdruck, den man bei so kleinen Kindern eher selten sieht.
„Mama, wo sind die anderen?“ Thilo vermutete das schlimmste. „Ist was mit Linda passiert? Oder mit Anton? Wo ist Flo?“
„Ich bin hier.“ rief Anton im Flur.
„Hä, was ist denn hier los?“ langsam wurde Thilo wütend darüber, dass er nicht wusste, was los war und bekam richtig Panik.
Linda. Linda war verschwunden. So wie das Mädchen aus dem Fernsehen, was eine Woche vermisst wurde und dessen Leiche man dann in einem Fluss gefunden hat.
Thilo hatte Angst und schrie jetzt. „Ma-Ma!“
„Papa.“ schluchzte seine Mutter jetzt.
„Was?“
„Papa… er... er ist tot.“
Im Flur war ein lautes Heulen zu hören, wie von einem Tier, etwas unmenschliches, von dem niemand gedacht hätte, dass es von einem Menschen stammen könnte.
„Was?“ wiederholte Thilo. „Papa ist tot? Mein Papa?“
Seine Mutter heulte jetzt. Thilo hörte, wie Anton die Treppen hoch stampfte.
Sein Vater soll tot sein? Das geht nicht. Alle können streben, aber sein Vater noch lange nicht. Er ist stark, er ist groß, er passt immer auf, wenn er Auto fährt, wenn er angegriffen wird, kann er sich wehren und er ist immer gesund.
Und er hatte versprochen, mit ihm Basketball spielen zu gehen, in einer richtigen Halle und ihn sogar in einen Verein einzutragen.
Seine Mutter musste sich einen schlechten Scherz erlauben.
Doch obwohl Thilos Gedanken immer noch gegen die Fakten ankämpften, wusste er in diesem Augenblick schon genau, dass er seinen Vater nie wieder sehen würde.
Und aus dem geöffneten Fenster strömte kalte Luft in den Raum, der Himmel hatte sich verdunkelt. Oben in Antons Zimmer lag ein weinender 11-jähriger im Bett und hielt sich ein Kissen auf den Kopf und ein 3-jähriger saß daneben und wusste nicht genau was los war und sagte immer wieder: „Papa kommt doch wieder, der ist nur arbeiten.“
Im Wohnzimmer war Durchzug, dadurch, dass das Fenster in der Mitte der rechten Wand so weit offen stand und die Wohnzimmertür immer noch offen war. Aber sie klatschte zu. Marie schrie vor schrecken auf, ihre Mutter versank mit ihrem Kopf in ein Kissen der Couch und als Thilo die Vögel singen hörte, setzte er sich schließlich hin und starrte verzweifelt auf den Parkettboden.
Kapitel 1
Der Abschied
Etwa 2 Jahre später
Als Thilo schon lange die Augen geöffnet hatte und den Duft der Fichten roch, der langsam aus dem geöffneten Fenster zu ihm stieg, regte er sich in seinem Bett.
Er schaute auf seinen alten Radiowecker. 6: 45. Na toll. Was sollte er machen? Schon einmal aufstehen und alles bereit machen, damit alles schneller lief? Oder zu gewohnten Zeit aufstehen, dafür etwas mehr schlafen, aber dann am Schluss wieder in Hektik geraten?
Als wenn ich jetzt noch einschlafen würde, dachte er sich und stand auf. Er ging direkt ins Badezimmer, machte die Tür leise zu und sah sich im Spiegel an.
Ein blasses Gesicht mit kleinen grün-braunen Augen sah ihn verträumt an.
Er fasste sich durch seine recht kurzen, blonden Haare und überlegte dann. Er hatte keine Lust, sich die Haare zu waschen, da musste er sie immer föhnen.
Er zog sich aus und stieg in die Dusche. Das kalte Wasser weckte ihn auf.
Was würde er heute machen? Mathe-Arbeit, ach ja. Versau ich eh, dachte er sich nur.
Nach der schnellen Dusche zog er sich an, etwas wärmer als sonst, da das, was er dort draußen im Fenster sah, nicht besonders erfreulich aussah. Mit Jeans und einem blauen Pullover von irgendeiner ihm unbekannten Marke wollte er nun hinunter gehen, doch er wollte sich seine Haare noch schick machen. Er schaute auf die Uhr. Ja noch genug Zeit.
Das Haar-Gel verklebte seine Haare zu einer weniger einfallsreichen, aber ordentlichen Frisur mit Pony nach oben.
Er lief nach unten in die Küche, holte Müsli und sechs Teller aus dem Regal, Milch aus dem Kühlschrank und deckte den Tisch im Esszimmer.
Danach ging er ins Wohnzimmer. In der Ecke, in der vor einigen Jahren noch eine Topfpflanze gestanden hatte, stand ein brusthoher, schmaler Schrank aus dunklem Eichenholz. Hauptsächlich war seine Oberfläche wichtig.
Auf ihm lag ein kleines Stoffdeckchen auf dem wiederum ein eingerahmtes Foto von seinem Vater stand, darum standen drei Teelichter.
Er öffnete die Schranktür. In diesem Schrank wurden gemalte Bilder, Fotos, andere Erinnerungsstücke an seinen Vater aufbewahrt. Auf der obersten Fläche lag nur ein Feuerzeug. Er nahm es und zündete alle Kerzen an, legte es wieder zurück.
„Wieder Müsli?“
„Hm?“ Thilo drehte sich verwundert um und sah seinen Bruder Florian skeptisch an.
„Es wird das gegessen, was auf den Tisch kommt.“
Florian drehte sich wütend um. „Ich will das nicht.“
„Ich weiß, das schmeckt nicht. Aber Mama konnte gestern nicht einkaufen.“
„Wenn du mir Geld gibst, kann ich ja mal einkaufen gehen!“
Thilo lachte. „Der Supermarkt hier ist viel zu weit weg. Das kannst du vergessen. Ist Marie schon wach?“
„Ne. Aber ich will lieber Schoko-Müsli!“
„Das ist jetzt nicht mein Problem, sei still jetzt.“
Wenn Florian ihn jetzt nervte, würde der Morgen noch richtig ätzend werden.
„Ich hab eine Aufgabe für dich.“
Neugierig stellte sich Florian grade vor ihm hin und grinste ihn an.
„Dein Auftrag im Namen der Majestät lautet: Wecke Marie, Linda und Anton. Wenn einer von ihnen schon wach ist, musst du ihnen sagen, dass es Frühstück gibt.“
Diese Masche zog immer, wenn Florian gut gelaunt war. Einfach mal einen richtig nervige Aufgabe so umformulieren, dass er meint, dass er für diese wichtige Aufgabe ausgewählt wurde und sie erfüllen muss.
„Ay, ay Sir.“ sagte er und watschelte betont lässig zum Flur.
Bescheuertes Kind, dachte Thilo und musste dabei lächeln. Er schüttete sich sein ekliges Müsli ein, dessen Bestandteile nur Hafer, Früchte und wahrscheinlich irgendeine Art Geschmacks neutralisierendes Zeug waren, da es absolut nach gar nichts schmeckte. Die Milch, die er dazu schüttete, war das leckerste an der Mahlzeit. Obwohl es doch ‚nur’ H-Milch war.
Als er beim dritten Löffel angelangt war kam eine sehr verschlafene Linda in das Esszimmer und schüttete sich ein wenig Müsli in die Schüssel.
„Scheiß Schule.“
„Du bist grade mal in der 5. Klasse und beschwerst dich schon.“
„Mein Klassenlehrer hasst mich.“
„Dann benimm dich eben besser.“
„Mach ich doch.“ sagte sie schmollend.
Die Zwillinge kamen jetzt beide ins Zimmer gewatschelt. Marie setzte sich direkt vor ihre Schüssel und nahm sich ihr Essen.
„Nimm nicht so viel, sonst wirst du fett!“ lachte Linda.
Marie sah sie verzweifelt an. Dann schüttete sie ein Teil ihres Essens in eine andere Schüssel.
„Auftrag ausgeführt.“ sagte Florian.
„Nicht ganz.“ meinte Thilo mampfend. „Wo steckt Anton?“
„Der will nicht aufstehen.“ antwortete Florian und sah dabei beschämt auf den Boden.
„Dieser Penner.“
„Ja!“ Florian setzte sich neben Marie. „Du hast mir schon was von deinem blöden Müsli gegeben, das will ich nicht.“
„Musst du aber.“ sagte Marie.
„Nein! Das ist von dir, du hattest das schon im Mund!“ sagte Florian und machte Anstalten, das Ganze wieder umzuschütten.
„Nein, gar nicht war!“
„Ruhe jetzt, Mama muss schlafen!“ sagte Thilo wütend. „Florian, stell dich nicht so an, dass ist genau das Müsli, das du auch essen würdest, wenn du dir es selbst in die Schüssel tun würdest! Marie, du wirst von Müsli eh nicht fett.“
„Haha, die glaubt auch alles.“ kicherte Linda.
„Und du hörst auf, sie ständig zu verarschen.“ sagte Thilo zu Linda.
„Als wenn…“
„Ach, sei still jetzt.“ Thilo schaute auf die Uhr. Viel zu spät.
Er stand auf und sagte noch: „Und jetzt nicht mehr laut werden, kapiert?“
Die Kinder nickten, immerhin akzeptierten sie das.
Jetzt lief Thilo nach oben und klopfte laut an Antons Zimmertür, trat dann ein und zog Antons Decke weg.
„Steh auf.“
„Lass mich!“ rief er.
„Ar, jetzt stell dich nicht so an. Ich muss jetzt zur Schule und dein Bus kommt auch in einer Viertelstunde.“
„In einer Viertelstunde?“ Anton richtete sich auf.
„Ja. Ich bin weg, Tschüss.“
Thilo lief hinunter, schnappte sich seine Schultasche, seinen Schlüssel, ging aus dem Haus und setzte sich auf sein Fahrrad, dass er damals zu seinem 12 Geburtstag bekommen hatte. Er musste 15 Minuten zur Schule radeln, wie er das hasste.
Nachdem sein Vater nicht mehr lebte, war Thilo schlagartig schlechter in der Schule. Aber nicht nur er, auch Anton und Linda.
Sein Lehrer wollte, dass Thilo sich einer Therapie unterzog und dann die 8. Klasse wiederholte. Stattdessen wollte seine Mutter aber, dass er sich zwar einer Therapie unterzog, aber nicht die 8. Klasse wiederholte.
„Das würde ihn nur zum Außenseiter machen. Er wäre der älteste in der Klasse.“
„Frau Rosenberg, ich bin mir sicher, ihr Sohn wird sich auch als ältester in einer Klasse wohl fühlen. Leider hat er nicht viele Freunde in dieser Klasse, wie sie jetzt ist, und ein Wiederholungsjahr ist eine sehr gute Möglichkeit für ihn, sich wieder neu zu orientieren.“
„Wer hat diesen Jungen zur Welt gebracht, ich oder sie?“
„Was meinen sie damit?“ er zögerte. „Frau Rosenberg, es ist in diesem Gebäude nicht gestattet, zu rauchen.“
Andrea Rosenberg zündete sich die Zigarette an und sah dabei provozierend Herrn Essmüller an, dann nahm sie einen kräftigen Zug und blies den Qualm in den Raum.
„Ich meine damit, dass ich meinen Sohn wohl besser kenne als sie. Er sagte mir mal, dass er nie eine Klasse wiederholen wolle, schon allein, weil ihm die Schüler in der Stufe unter ihm viel zu kindisch sind und er auch keine Lust hätte, den ganzen Stoff noch einmal durchzukauen.“
Herr Essmüller kratzte sich an seinem nur noch wenig von Haaren bedeckten Kopf.
„Frau Rosenberg, er wird das Jahr wiederholen müssen, da er in vier Fächern 5 steht. Und unterlassen Sie jetzt das Rauchen, sonst muss ich Sie bitten zu gehen.“
Andrea verdrehte die Augen, nickte dann aber und drückte die Zigarette im nahe gelegenen Papierkorb aus.
Was für ein dämlicher, penibler Arsch, dachte sie nur.
Sie hatte wenige Monate nach Stefans Tod mit wieder mit dem Rauchen angefangen. Er hatte es immer wieder geschafft, sie davon abzubringen, doch vor allem wenn sie Kummer hatte, war eine Zigarette immer gut für sie. Deshalb fiel es ihr besonders schwer, nach seinem Tod nicht mit dem Rauchen anzufangen und hat sogar ein paar Monate ohne Zigaretten ausgehalten. Bis sie einmal mit übler Laune in einen Kiosk spaziert war und das auch noch bei knappen Temperaturen über null draußen. Da konnte sie nicht widerstehen.
„Wie könnte man das verhindern, dass er sitzen bleibt?“ fragte sie und strich sich dabei durch ihre haselnussbraunen, lockigen Haare.
„Sie könnten ihn auf die Realschule in Sommerfeld schicken.“
„Ach, da gibt es eine Realschule? Das liegt ja auch viel näher an Auenrade.“
„Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht für Thilo?“
Andrea presse ihren rechten Finger auf ihre Lippe und dachte angestrengt nach.
Im Klassenraum war es ganz still. Das Ticken der Uhr schien ihre Gedanken zu ordnen.
So kam es, dass Thilo auf die Realschule wechselte. Heute wünschte er, er hätte einfach das 8. Schuljahr auf seiner alten Schule wiederholt. Da hatte er wenigstens ein paar wenige Freunde. Nicht das die Mitschüler in seiner neuen Klasse nicht nett wären. Aber irgendwie ist es nie zu näheren Freundschaften gekommen.
Es lag an mir, dachte er nur. Ich hatte damals einfach kein Bock überhaupt mit jemandem zu sprechen.
Während er mit seinem Fahrrad in einer schmalen Straße an Fichten und Tannen vorbei fuhr, holte er seinen MP3-Player aus der Hosentasche und schaltete ihn ein.
Noch 7 Minuten.
Es gab ein Wort, was seine die Realschule in Sommerfeld beschreiben konnte: langweilig.
Jedenfalls für Thilo. Womit würde er den ganzen Unterricht verbringen? Entweder aufpassen, auf den Boden oder die Wand starren oder zeichnen.
Ersteres sollte für ihn eigentlich die Regel sein, dachte er sich. Früher war ich so gut in der Schule…
„Also Mathematik, Französisch, Physik, Geschichte steht er 5.“
„Frau Rosenberg, normalerweise sollte ihr Sohn ein Jahr wiederholen. Aber ich glaube, wir könnten da bei ihm eine Ausnahme machen.“
Vor Andrea Rosenberg an einem großen, breiten Tisch saß eine pummelige, kleine Frau namens Frau Hummer, der Name traf teilweise auf ihr Aussehen zu, da sie, wenn sie wütend wurde, immer ein hummerrotes Gesicht bekam und sozusagen in der Schale dünstete.
„Wissen Sie, ich habe damals ja nur meine Großmutter verloren, die mir sehr wichtig war. Und ich wurde wirklich so schlecht in der Schule. Ich bin froh, dass unsere Lehrer darauf Rücksicht genommen haben und mir dann teilweise eine 4 gegeben haben, wo ich eine 5 verdient hätte.“
„Nun ja, er steht ja nicht nur 5. In Deutsch, Englisch, Religion…“
„Ja, ich weiß, ich habe sein Zeugnis ja schon per Fax bekommen.“
„Ach, richtig!“ Andrea versuchte freundlich zu lächeln. Jetzt bloß nicht unsympathisch oder von sich eingenommen wirken. Thilo muss an dieser Schule angenommen werden.
„Eine Frage.“ sagte Frau Hummer und rümpfte die Nase. „Rauchen Sie? Hier riecht es so nach Zigaretten.“
„Ähm.“ Andrea war in der Zwickmühle. Der gute Eindruck von der besorgten Mutter durfte nicht kaputt gemacht werden. Viele Pädagogen hassten Raucher. Meinte sie jedenfalls.
„Nein, ich rauche nicht.“
„Seltsam.“ Frau Hummer öffnete das Fenster. „Wie auch immer. Ihr Sohn wird an unserer Schule angenommen.“
„Wirklich? Oh Dankeschön, Frau Hummer.“ Andreas Augen leuchteten. Sie hatte es geschafft. Immerhin Realschule. Was Thilo wohl dazu meinte?
Damals sagte Thilo, es wäre in Ordnung. Damals war es ja auch „ganz okay.“
Damals dachte er immer noch daran, dass er immerhin mit Gleichaltrigen in der Klasse war. Damals dachte er nicht daran, dass er niemandem mehr zum Reden hätte.
Er war an der Schule angekommen. Es war eine sehr kleine, recht gemütliche Schule, die immer sauber war und wo alle Schüler hoch motiviert schienen.
Bereits nach der 5. Unterrichtsstunde hatte er Schule aus und die Mathearbeit lief besser als erwartet.
Heute hatte ihn niemand angesprochen. Kein Lehrer, kein Schüler. Es schien ihm oft so, als würde er für die anderen gar nicht existieren.
Zuhause ging er erst mal in die Küche, um zu sehen, was es denn heute zu essen gab.
„Wieder Spaghetti…“ murmelte er und sah in den Topf mit den zusammenklebenden Nudeln.
„Thilo, setzt du dich zu uns?“ hörte er seine Mutter aus dem Esszimmer rufen.
„Ja, ich komme jetzt!“ er nahm sich einen Teller und tat sich ein paar Spaghettis und Tomatensoße auf den Teller.
Andrea saß vor am Tischende, wo früher Stefan meistens saß und hatte ein ernstes Gesicht.
Sie hatte ein hübsches Gesicht. Dünne, halbkreisförmige Augenbrauen schoben sich nach oben und runzelten die Stirn. Sie hatte hellblaue Augen, eine hübsche Nase, die ganz vorne etwas dick war, einen etwas großen Mund, der aber gut zu ihrem restlichen Gesicht passte. Sie hatte sozusagen harmonische Gesichtszüge.
Ihre schulterlangen, blonden Haare gaben ihr damals immer ein junges Aussehen. Doch seit Stefans Tod schlief sie nicht so viel und Falten ließen sich auf ihrem Gesicht nieder.
Dünn ist sie geworden.
„Ich muss euch etwas Wichtiges sagen.“
Thilo setzte sich. Ihm gegenüber saß Linda und lächelte ihn an.
Sie wird mal bildhübsch, dachte Thilo nur.
„Thilo, ich hatte heute eine 2 minus im Englisch Vokabeltest.“
Thilo sah sie erfreut an. „Dann hat sich es wohl gelohnt mit mir zu pauken, hm?“
„…Ja“ kicherte sie.
Andrea rief die anderen. „Anton, du hast heute verschlafen, was hat der Lehrer gesagt?“
„Ach, der hat gemotzt, wie immer.“
Anton setzte sich neben Linda. Florian und Marie krochen aus verschiedenen Ecken des Hauses hervor und trafen sich auf dem Weg in den Flur.
Sie riefen sich „Idiot“ und „Kuh“ zu, setzten sich im Esszimmer auf den Boden und guckten ihre Mutter erwartungsvoll an.
Andrea musste lachen. „Wie brav ihr jetzt alle schaut. Sieht man ja nicht oft.“
„Komm zur Sache.“ sagte Anton.
Andrea warf ihm nur einen wütenden Blick zu. „Sei nicht so vorlaut.“
„Pah.“ Anton hatte, seitdem er seinen ersten Pickel auf der Nase entdeckt hatte, eine ziemlich pubertäre Phase und zwar die, in der man seine Eltern auf die Probe stellt, sie zur Weißglut bringt und guckt, was man sich erlauben kann. Doch diese alles hielt sich noch in Grenzen.
„Ihr wisst, dass ich neulich bei einem Vorstellungsgespräch bei dieser großen Gärtnerei in Wittenberg war.“
Thilo erinnerte sich. An diesem Tag war seine Mutter außergewöhnlich gut gelaunt gewesen, da sie fest davon überzeugt war, diesen Job zu bekommen. Nach 2 Jahren Arbeitslosigkeit brauchte sie dringend einen Job, damit sie auch mal etwas anderes zu tun hatte als den Haushalt zu machen und sich um die Kinder zu kümmern. Doch ihre Laune, als sie von dem Gespräch zurückkam an diesem Tag war echt mies gewesen, daran konnte sich Thilo noch genau so gut erinnern.
„Sie hatten mich nicht genommen…“
Er war an diesem Tag froh gewesen, dass sie den Job nicht bekommen hatte, sonst wären sie noch in diesem Monat umgezogen. Aber seine Mutter MUSSTE irgendwann wieder arbeiten gehen. Und dass sie in Auenrade, Sommerfeld oder in der sonstigen Umgebung einen Job fand war sehr unwahrscheinlich. Doch irgendwoher musste wieder Geld kommen! Sie konnten nicht immer weiter von Stefans Geld leben.
„…doch jetzt kam ein Anruf. Sie bräuchten dringend eine Aushilfskraft und das so schnell wie möglich.“
Noch aß Thilo ohne Rührung. Noch ist nichts klar.
„Kinder, wir haben kein Geld mehr. Es reicht bald nicht mehr, die Rechnungen zu bezahlen und hier im Dorf finde ich keine Wohnung die frei ist und in der genug Platz für uns alle ist. Und Arbeit finde ich hier auch nicht. In Wittenberg wird mir nun ein Job angeboten, endlich. Und auch noch einer, der mir Spaß machen wird. Wenn wir in eine kleinere Wohnung ziehen, die für uns alle genug Zimmer hat, die aber eine geringere Miete hat und wo ein kleinerer Stromverbrauch herrscht, könnten wir dort unser ganzes Leben mit meinem Verdienst und Papas Restgeld finanzieren. Kein Arbeitslosengeld mehr, dann wären wir gesichert.“ Andrea schaute sich die Gesichter ihrer Kinder genau an und versuchte, genau so überzeugend, wie sie das gesagt hatte, sie anzugucken.
„Du willst also, dass wir umziehen?“ sagte Anton.
„Ja.“ Andrea drehte sich zu ihm um. „Ich habe schon eine Wohnung gefunden, die bezugsfertig ist. Morgen ist Samstag, wenn wir fleißig zusammenpacken und ausräumen, könnten wir schon Montag in Wittenberg ankommen und dort einziehen.“
„Was?“ Linda sah ihre Mutter traurig an. „Ich will hier nicht weg.“
„Ich auch nicht. Und ich komm auch nicht mit!“ sagte Anton.
„Kinder, ich weiß, dass ist nicht einfach für euch und für mich auch nicht. Aber wir müssen das tun. Nur so ist unsere Zukunft gesichert!“
Thilo sah seine Mutter ungläubig an. „Wir ziehen also um. Das steht praktisch schon fest und wir können sozusagen eh nichts mehr dagegen ausrichten?“
„Sozusagen. Ich habe schon den Vermieter angerufen, wir müssen nur den Mietvertrag unterschreiben und können dann einziehen.“
„Nein! Ich will hier bleiben!“ Anton hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch.
„Ich auch. Bei meinen Freunden und dem Kindergarten.“ sagte Marie vorsichtig.
„Das kommt jetzt alles ein bisschen schnell, ich weiß.“ sagte Andrea. „Aber in Wittenberg gibt es auch schon super Schulen! Ich habe euch schon angemeldet.“
Thilo stocherte nachdenklich in seinem Essen herum.
„Mama, was ist mit meinen Freundinnen? Ich wird die doch wohl noch sehen?“ fragte Linda, deren Ton schon Vermuten ließ, dass sie schon fast akzeptiert hatte, dass sie wegziehen würden.
„Klar, aber leider nicht mehr so oft. Ihr findet bestimmt neue Freunde. Vor allem ihr zwei.“ Andrea sah ihre zwei erstgeborenen Söhne an.
„Das ist mir egal! Aber hier ist es so cool, wir haben hier alle riesige Zimmer für uns alleine, wir können im Garten rumlaufen oder auf der Straße und in Wittenberg haben wir dann ne kleine Wohnung mit kleinen Zimmern…“ sagte Anton, jetzt etwas ruhiger.
Thilo starrte nur noch auf sein Essen.
„Was ist mit Oma?“ fragte Florian, der bis jetzt noch gar nichts dazu gesagt hatte.
„Das weiß ich noch nicht. Ich habe schon mit ihr telefoniert. Wir dann natürlich noch weiter auseinander, als vorher. Aber sie hat versprochen oft zu kommen, um mir im Haushalt zu helfen und natürlich um euch zu sehen.“
Oma Emilie war Andreas Mutter. Der einzige Großelternteil von den Kindern, der noch lebte. Sie war eine dünne, sportliche Oma mit langen Haaren. Eine sehr selten zu sehende Oma, normalerweise hatten Omas kurze Haare, waren etwas pummelig und klein. So wie Oma Inge. Doch sie starb bereits zwei Monate nach dem Tod ihres Sohnes Stefan. Wahrscheinlich aus Kummer, dass sie gar keinen mehr hatte. Dass sie einsam starb würde sich Andrea nie verzeihen. Sie hätte sich damals mehr um sie kümmern sollen und nicht selber in Depressionen versinken sollen. Überhaupt hat sie viele Dinge getan, die Stefan nie getan hätte, wenn sie gestorben wäre.
Andreas Vater starb bereits als sie 25 Jahre alt war, an Lungenkrebs. Kettenraucher.
Ihre Mutter hatte seitdem keinen anderen Mann. Und es machte ihr anscheinend nichts aus. Doch die, für eine Oma, riesige Emilie ist auch alt geworden. 78 wird sie bald und ist noch super in Schuss. Sie hatte damals genau das Gegenteil davon getan, was Andrea bei Inge versäumt hatte: Sie hatte Andrea getröstet und dauernd unterstützt.
„Wirklich?“ fragte Marie.
„Oma muss kommen! Ohne Oma ist die Woche gar nicht… gar keine richtige Woche.“ sagte Linda fordernd.
„Wenn sie das schafft.“ Andrea hielt sich die Hand vor den Mund. Jetzt bloß nicht heulen, nicht vor den Kindern. Gut abgewehrt, Gott sei Dank.
„Und unsere Sachen?“ fragte Anton, der mittlerweile ganz ruhig war.
„Die können wir alle mitnehmen. Und die Sachen, dir ihr nicht mehr haben wollt und die schon seit Jahren bei euch auf den Zimmern liegen nehmen wir mit und verkaufen sie in Wittenberg am Samstag nächste Woche auf dem Trödelmarkt.“
Ich habe mir das schon sehr gut überlegt, dachte Andrea und nickte dabei.
„Verkaufen!“ lachte Marie und klatschte.
Es gab nichts niedlicheres, als Marie mit ihren dicken Bäckchen, wie sie sich freute. Oder wenn sie ihren Kopf vergnügt von einer auf die andere Seite neigte und ihre mittlerweile schulterlangen Haare erst auf der einen, dann auf der anderen Seite runter hingen. Jeden Tag tat sie sich kleine Klämmerchen in die Haare, die ihr Pony zurückhielten. Der Niedlichkeitsfaktor konnte kaum noch höher gesteigert werden.
Oder doch? Florian hatte auch diese dicken Bäckchen, die haben beide von ihrem Vater. Die anderen drei hatten eher das schmalere Gesicht ihrer Mutter geerbt. Er hatte auch die Locken von seinem Vater, allerdings in blond, das er wiederum von seiner Mutter geerbt hatte. Würde er der neue Thomas Gottschalk werden? Florian hatte außerdem perfekte Zähne, die hatte er von seiner Mutter, genau wie den großen Mund.
Linda hatte schon mit 11 Jahren ein ausgesprochen hübsches Aussehen, sie hatte die hübsche Nase der Oma, den Kussmund ihrer Mutter und wunderschöne, grüne Augen und eine gute Figur. Aber das war bei allen Rosenberg-Kindern so.
Marie und Florian hatten die braunen Augen ihres Vaters, Anton hatte als einziger die hellblauen Augen von seiner Mutter eins zu eins übernommen und Thilo hatte braun-grüne Augen.
Anton war von allen am athletischsten gebaut. Er hatte die Hakennase von seinem Vater, sonst schien er alles von seiner Mutter zu haben.
Normalerweise würde man sagen, alle Kinder der Rosenbergs sind richtig hübsch. Außer Thilo…
Andrea stieß einen besorgten Atemzug aus. „Kinder, ist das für euch in Ordnung?“
„Ja, ja. Aber ich will dann auch direkt in einen neuen Fußballverein, wenn wir in Wittenberg sind. Die haben da auch viel bessere Angebote, hat der Chris gesagt.“ platzte es aus Anton heraus. „Kann ich jetzt wieder hochgehen?“
„Ich will jetzt telefonieren, mit meinen Freundinnen.“ sagte Linda und wollte aufstehen.
„Mama…“ fing Thilo an. „Du kannst das nicht machen.“
„Aber Thilo, warum denn nicht? Wir können in Wittenberg noch mal ganz von vorne beginnen.“
„Dann haben wir gar nichts mehr.“
„Doch, ihr könnt eure Sachen mitnehmen. Es gibt nur ein Problem. Jeweils zwei Geschwister müssen sich ein Zimmer teilen. Nur einer wird ein Zimmer für sich bekommen können.“
Anton sah Thilo schief an. „Teilen wir uns ein Zimmer?“
„Ich würde vorschlagen, Thilo bekommt ein eigenes Zimmer, weil er der Älteste ist.“ sagte Andrea. „Oder wie siehst du das, Thilo?“
„Wir ziehen nicht um, Mama!“ platzte es jetzt aus ihm heraus und er stand auf.
„Thilo, gerade du müsstest das doch…“
„Du nimmst uns damit alles! Unsere alte Umgebung, unsere Freunde, unser Privatleben. Das ist so scheiße. Wir können uns auch hier ne Wohnung suchen und weiter von Papas Geld leben und mit der Arbeitslosenhilfe.“
Andrea hielt sich die Hand an die Stirn. „Brüll nicht so, davon kriege ich Kopfschmerzen.“
„Warum machen wir das nicht?“ auf Thilos Stirn trat seine Wut-Ader, wie sie gerne genannt wurde, hervor. Seine Geschwister starrten ihn an, waren ganz still und wirkten eingeschüchtert.
„Was?“
„Das was ich grade gesagt habe, hörst du mir gar nicht zu?“
„Doch Thilo, aber zur Zeit hab ich so viel um die Ohren…“
„Was ist mit Oma? Wir können sie nicht einfach…“
„Thilo, Oma kommt schon zurecht.“
Thilo zuckte mit dem linken Augenwinkel. Sag es! „Du hast was viel wichtigeres gar nicht erwähnt.“
Andrea schwieg. Mir scheiß egal, was der meint, dachte sie.
„Was ist mit Papa?“
„Hä?“
„Wir verlassen Papa für immer! Er ist dann ganz weit weg und wir können ihn nie wieder besuchen. Wir können noch nicht mal irgendwas machen!“
„Thilo, wir können auch hier nichts machen.“
„Papa liegt hier auf dem Friedhof und ich kann ihn jeden Tag besuchen!“
Nicht heulen.
„Wir haben doch den Schrein!“
„Ach der Scheiß Schrein!“
Nicht heulen!
„Thilo, was hätte Papa…“
„Fang nicht damit an! Hätte gibt’s nicht, seit dem Tag, an dem Papa die Birne weggeschossen wurde, sagst du solche Wörter hier immer öfter…“
„Thilo!“
Jetzt bloß nicht heulen.
„Ich verpiss mich.“ Thilo rannte aus dem Esszimmer hoch in sein Zimmer und warf sich auf sein Bett. Sein Kissen sog die Tränen auf und war dann an vielen Stellen schon zu nass, sodass er es umdrehen musste, um einigermaßen trocken darauf zu liegen.
Seine Geschwister, die ihm nachgesehen hatten, hatten unterschiedlich reagiert.
Linda rannte ebenfalls auf ihr Zimmer und fing an zu heulen.
Anton rannte erst zu Thilos Zimmer, versuchte die Tür zu öffnen, aber da sie abgeschlossen war, war es zwecklos und er trabte in sein eigenes Zimmer.
Marie setzte sich auf den Schoß ihrer Mutter, die erst einmal nur so dasaß.
Florian fragte seine Mutter immer weiter: „Was machen wir jetzt? Was ist mit Thilo los? Warum können wir Papa nicht besuchen?“
Warum musstest du auch so eine scheiß bescheuerte Frau heiraten, Alter, dachte Thilo während er sich das alte Foto von seinem Vater und ihm ansah.
Das Bild war das letzte, wo sie beide zusammen waren, bevor sein Vater starb. An dem Tag war er grade mal 13 gewesen, oder? Sein Gedächtnis hatte dieser Tag leider nicht so wirklich abgespeichert, da es ein Tag wie jeder andere war. Einfach mal so ein Foto gemacht und nicht gewusst, dass es das letzte von ihm seinem Papa war. Auf diesem Bild wirkte alles noch so perfekt, so idyllisch. War es das jetzt noch? Nicht wirklich. Es war so idyllisch wie es in einem Kaff wie Auenrade nur sein konnte, aber das wirkte nur von Außen so. Jeder in diesem Kaff hier wusste, dass seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes schlimme Depressionen hatte, immer. Sie war zwar immer noch in diesem Verein den irgendwelche spießigen Dorfbewohner, die wahrscheinlich schon längst alte Säcke waren, die auf Veranstaltungen auf dem Dorfplatz immer als „Ehrenbürger“ benannt wurden, gegründet hatten. Verein zur Erhaltung von Auenrade e.V.
Oft hatten Andrea und Stefan in ihrem Haus zu Besprechungen mit Kaffee und Kuchen eingeladen und alle dachten die Rosenbergs wären die perfekte Familie.
Doch jetzt denkt das keiner mehr. Nach Stefans Tod wurden Gerüchte immer lauter, die Ehe wäre nie harmonisch gewesen und die Kinder wirkten ja auch so unglücklich, ach ja, wie furchtbar das sein muss und jetzt, wo der Vater auch noch ganz weg ist, geht es ihnen noch schlechter. Hast du es schon gehört? Was? Ihr ältester kommt jetzt fast gar nicht mehr raus. In der Schule sind sie auch schlechter geworden. Alle der älteren Kinder. Andrea kriegt das wohl nicht mehr auf die Reihe. Ja, sie scheint sich mehr darum zu kümmern, genug Geld für ihren Alkohol zusammen zu bekommen, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Das ist ja schrecklich! Ja, nicht wahr? Aber sie ist noch in unserem Verein? Ja. Ob sie aussteigt, was denkst du? Bestimmt, sie hat keine Zeit mehr, um sich irgendwie für das Dorf zu engagieren. Hoppla, da ist ja der Thilo! Lauf doch nicht weg, Junge! Hat er uns jetzt belauscht? Ich denke schon, er saß die ganze Zeit hinter dem Baum da! Ein richtig unverschämtes Kind, nicht wahr?
Ach, wie er diese Dorfmenschen hasste. Alle Tratschtanten, die vorne rum immer gut, großzügig und freundlich wirkten und hintenrum logen, über alles herzogen und sich auch noch dazu berechtigt fühlten. Nicht, dass seine Mutter früher nicht auch so war. Aber seit dem Tod ihres Mannes musste sie sich schon tolle Sachen anhören, dass hatte Thilo sehr wohl mitbekommen, auch wenn sie so tat, als wäre nichts gewesen.
Aber in der Schule war es bei ihm nicht anders. Die Kinder bei ihm waren immerhin schon 13, die hatten teilweise Mitgefühl für ihn, aber einigen war es auch total egal. Für Linda oder Anton war es dann doch schwieriger, wenn die kleinen Kinder sie fragten: Warum bist du auf einmal so komisch? Du redest gar nicht mehr mit uns! Und wenn dann ihre Mütter ihnen sagten, es sei eine ganz traurige Geschichte und sie sollten das arme Kind doch in Ruhe lasse, taten sie es. Doch dann, beim Abendessen sagten ihre Eltern ihnen, dass die Kinder ja total bescheuert werden müssten, wegen dem Tod des Vaters und weil ihre Mutter sie vernachlässigt.
Am nächsten Tag wurde Linda dann mehrmals an den Kopf geworfen, sie sei doch verrückt. Tja, so war das eben.
Linda sonderte sich am schnellsten von den anderen Kindern ab. Aber sie fand auch am schnellsten wieder zu ihnen, zu denen, mit denen sie sowieso befreundet waren.
Bei Anton war es anders, er konnte irgendwann gar keine anderen Kinder mehr leiden und hatte auch kaum Freunde. Außerdem schlug oder trat er direkt alle Kinder, die ein Wort über seinen Vater sagten.
Thilo dachte an seine Zeit. Jeder Tag kam ihm irgendwie so lang vor und im Nachhinein so kurz, denn, was hatte er in dieser Zeit getan? Irgendwann meinten auch die Kinder in seiner Klasse, er wäre ein wenig weggetreten von der restlichen Welt.
Und dann wechselte er die Schule.
Und was war mit seinen besten Freunden von damals? Philipp war tatsächlich in die Stadt gezogen, nach Köln, und Thilo hatte nie wieder was von ihm gehört.
Pille wohnte zwar immer noch hier, aber er war nicht mehr dauernd zu Besuch. Er war immer noch Thilos engster Freund. Das hieß, dass sie sich vielleicht ein oder zwei Mal in der Woche trafen, um irgendwas zu machen oder einfach zum Reden. Öfters waren auch andere Freunde von Pille dabei. Während solchen Ausflügen hielt sich Thilo immer recht ruhig. Zum Glück hatte er irgendwann sozusagen wieder das Sprechen gelernt und war etwas gesprächiger geworden.
Früher war er der Klassenclown. Gerne laut, recht gesprächig, hilfsbereit und freundlich. Und was bin ich jetzt?, fragte er sich. Schüchtern oder um es anders auszudrücken: nicht kontaktfreudig. Vielleicht war das ganz gut so, bei den Pfeifen, die hier in dem Kaff wohnten. Außer Pille stinken die doch alle. Obwohl, konnte er das überhaupt sagen? Bei vielen hatte er einfach mit seiner häufigen schlechten Laune einen schlechten Eindruck hinterlassen, so dass sie ihn nie ansprachen. Und wenn er mal gut gelaunt war, traute er sich nicht die anderen anzusprechen oder er sprach sie an und es kam nicht mehr als Gesprächsstoff heraus als Schulfächer oder Lehrer. Kannte er überhaupt alle seine Klassenkameraden, oder andere Jugendliche aus seinem Alter, die von hier waren richtig?
Er sah sich wieder das Foto an.
Bald sind wir hier weg. Sie wird das durchziehen. Dann kann ich dich nie mehr besuchen und dir meine Sorgen erzählen. Und die alten Leute auf dem Friedhof werden mich nie wieder anglotzen wie ein Tier im Zoo, das herumspringt, weil es verrückt geworden ist.
Was sollte das eigentlich? Papa war tot, unter der Erde. Thilo war sich zwar sicher, dass er überall da war, aber er brauchte es einfach, zu einem Ort hinzugehen, wo sein Vater eine Bedeutung hatte. Aber hatte er das nicht überall?
Wir ziehen also um. Eine kleine Wohnung in Wittenberg, eine Großstadt. Wittenberg, darüber kam doch schon mal eine Dokumentation im Fernsehen über Jugendkriminalität. Wittenberg war groß, bestimmt zehn Mal so groß wie Auenrade oder Sommerfeld zusammen. Und vor allem lebten auch zehn Mal so viele Leute dort. Und das auf einen Fleck. Hektisches Stadtleben, so hieß doch mal ein Video, das sie in der Schule geschaut hatten, oder? In Sozialkunde, oder?
Sehen wir mal die positiven Seiten des Umzugs, keine nervigen Dorfspießer, keine nervigen Vereine zur Erhaltung von irgendwas, keine nervigen Kaffeekränzchen…
Und ein völliger Neuanfang für Thilo. Ich kann noch mal ganz neu anfangen! Eine neue Schule, neue Leute, neue Umgebung. Ja, so schlecht war der Umzug doch gar nicht.
Er sah wieder das Bild seines Vaters an. Er lächelte ihn an. Er fehlte einfach. Seine schlechten Witze, seine Ratschläge, sein blöder, kratziger Schnurrbart, seine Vergesslichkeit. „Wo habe ich denn jetzt wieder meine dämlichen Pantoffeln gelassen!“
Thilo konnte gar nicht glauben, dass irgendjemand einfach seinen Vater erschossen hatte. Aber daran wollte er auch gar nicht mehr denken.
Gut, aber wenn sie umzogen, war Papas Grab weg. Und nicht nur das, Oma war auch ganz weit weg. Jetzt würde es noch stressiger werden und er würde seiner Mutter noch mehr helfen müssen, als er es jetzt schon tut.
Ich will wenigstens das einzelne Zimmer. Mit Anton halte ich es den ganzen Tag gar nicht aus.
Er schaute auf die Uhr. Er hatte eineinhalb Stunden im Bett gelegen und stand jetzt mit einem Ruck auf und streckte sich. Wie groß dieses Zimmer war. Er ging zu seinem Fenster und machte die Vorhänge auf die Seite, die er diesen Morgen noch gar nicht angefasst hatte. Es waren schicke, altmodische rote Vorhänge, mit Kordeln dran. Er sah, dass die Sonne wieder schien und drehte sich um.
Sein Fernseher und die Playstation 2 standen in der Ecke. Ganz ohne Anton, das war ein seltener Anblick. Thilo las lieber Bücher, anstatt Videospiele zu spielen. Aber er ging auch gerne an den Computer und schrieb selbst welche, die aber generell nie fertig wurden, weil er an den Tagen, an denen er mal Lust zu Schreiben hatte, keine Zeit hatte oder weil er einfach eine Idee hatte, die ihm besser gefiel.
Er ging hinunter ins Wohnzimmer. Würde er seine Mutter sehen, würde er nicht mit ihr reden. Im Flur ging er an der Küche vorbei und sah durch das Glas, das in der Mitte der Holztüre war, seine Mutter in der Küche an dem kleinen Küchentisch sitzen. Mit einem Glas oder so was.
Er ging also weiter ins Wohnzimmer zu dem kleinen, schicken Holzstich, in dem ein Bild eingeschnitzt war und nahm den Telefonhörer von der Ladestation ab, die auf dem Tisch stand und wählte Pilles Nummer.
„Löffler.“
„Hallo Frau Löffler, hier ist Thilo. Kann ich Philipp sprechen?“
„Einen Moment.“
Da Thilo damals immer nur was mit Philipp und Pille unternommen hatten, und Pille eigentlich auch Philipp hieß, hatten sie ihm diesen Spitznamen gegeben, weil er früher ständig Pillen nehmen musste. Er hatte sie wegen irgendeiner Leberkrankheit nehmen müssen und mittlerweile hatte sich der Spitzname Pille, auch nachdem der andere Philipp weggezogen war, so sehr in Thilos Hirn gebrannt, dass es ihm richtig schwer fiel, am Telefon nicht Pille, sondern Philipp zu sagen, da Pilles Eltern den Spitznamen gar nicht mochten und wie sie es ausdrückten „auch nicht tolerieren werden“.
„Hi, Thilo. Was geht?“ fragte Pille, der das e beim Wort „geht“ immer so lang wie möglich zog, sodass es gerade noch erträglich war.
„Ich.“
„Wie?“
„Wir ziehen um.“
„Hä? Warum das denn? Wann?“
„Meine Mutter sagt, dass wir Montag schon in Wittenberg sind.“
„Wittenberg? Ach du scheiße… Warum fahrt ihr denn in so ne scheiß Stadt?“
„Weil meine Mutter da Arbeit gefunden hat und so ne Wohnung, die viel günstiger ist, als das Haus.“
„Wie scheiße.“
„Ja. Sollen wir noch was machen, bevor ich endgültig weg bin?“
„Klar, lass mal ins Kino gehen oder so. Kommen zu Zeit echt geile Filme.“
„Find ich auch ne gute Idee.“
„Wie wär’s mit Morgen?“
„Ja.“
„Gut, kann Kathi auch mitkommen?“
„Wenn du unbedingt willst.“
„Klar, Alter, ich bin mit der zusammen. Ich würd’ sie am liebsten überall mit hinnehmen.“
Thilo schmunzelte. Wenigstens hat er jemanden, der ihn richtig lieb hat. Im Gegensatz zu mir, dachte er dann und sein Schmunzeln verschwand wieder von seinen Lippen.
„Also? Bis Samstag dann?“
„Jo, bis Samstag. Aber wann denn? Ich weiß nämlich nicht, ob ich noch viel beim Packen helfen muss oder so.“
„Sagen wir halb drei bei mir?“
„Okay. Bis dann.“
„Tschüss.“ Normalerweise hätte Pille noch einen Spruch wie „hau rein“ „mach’s gut“ oder „werd’ größer“ abgelassen, aber er fand das bei Thilo so unangebracht. Er würde nie richtig rein hauen, es gut machen oder größer werden.
Thilo legte leicht erfreut auf. Er musste allerdings noch eine Sache erledigen, die nicht mehr warten konnte. Er ging in den Flur, schnappte sich seine Jacke, den Schlüssel und ging nach Draußen.
Es war frisch, der Wind war kalt, aber die Sonne war wärmte. Thilo ging die Treppe hinunter und drehte sich unten auf dem Weg zur Straße noch einmal um und sah sich das Haus an. Es ist ein tolles, großes Haus, dachte er.
Aber er ging weiter. Ich mache jetzt Schluss mit Auenrade.
Auf dem Bürgersteig begegneten ihm einige Nachbarn die er grüßen musste sowie umgekehrt. Das würde ihm in Wittenberg wohl auch nicht erspart bleiben, aber vielleicht waren da ja nettere Nachbarn.
Er ging an der Bäckerei vorbei und um die Ecke, als er am Friedhof angekommen war.
Er hielt sich gerne im Friedhof auf.
„Hey, Thilo!“ es war der Friedhofswärter, der gerade die Hecke schnitt, der ihn begrüßte. Thilo war schließlich ein Stammgast.
„Hallo. Heute ist die Hecke dran?“
„Wie du siehst.“ sagte er und schnitt weiter.
Die Hecke um den Friedhof war schön grün. Wenn man von Außen auf den Friedhof zuging, sah man nur die obersten Teile der Hecke, weil davor noch eine Mauer aus dunklem Stein war, die dem Friedhof etwas Finsteres verlieh.
Thilo ging auf dem Kiesweg an den Gräbern vorbei. Mittlerweile kannte er alle Namen der Verstorbenen. Bei manchen wusste er sogar die genauen Geburts- oder Sterbejahre. Teilweise waren es uralte Gräber, die auch richtig klasse aussahen. Manche sahen auch unheimlich aus, zum Beispiel ein Familiengrab, wo ein weinender Engel darüber stand. Der älteste Verstorbene aus diesem Grab war 1894 gestorben, also ein richtig altes Grab. An diesem ging er aber eher selten vorbei. Er hatte ja auch ein anderes Grab als Ziel.
Wilhelm Fischer, geboren 1902, gestorben 1978; Anna Fischer, geboren 1904, gestorben 1989; Jasper Fischer, geboren 1923, gestorben 1999; Melanie Fischer, geboren 1925…
Die Familie Fischer war ganz schön groß. Dann kam das Ehepaar Wendel, Else und Richard, Gertrud, Helga, Hans, Theodor, Kurt… und Stefan.
Stefan Rosenberg stand in kunstvoller, schnörkeliger Schrift auf dem eher einfachen Grabstein. Stefan Rosenberg, geboren 1963, gestorben 2003
Thilo stand vor dem Grab seines Vaters und blickte es einfach so an. Auf dem Grab wuchsen viele bunte Blumen. Thilo hatte keine Ahnung, ob es Stiefmütterchen, Narzissen oder Tulpen waren. Na ja, Rosen würde er sicherlich erkennen, aber die wuchsen dort nicht. Sie hatten alle zusammen die Blumen ausgewählt und es waren alle hübsche, kleine, farbenfrohe Pflänzchen. Ein kleiner Teil des Bodens über dem Grab war allerdings nicht mit Blumen bedeckt, sondern es war einfach ein Marmorstein auf dem eine Kerze in einem roten Behältnis stand. Bei vielen Gräbern waren es einfache Lampen, aber sie wollten Kerzen, weil sie das beschlossen hatten.
Die Himmel war Blau und nur einzelne Wölkchen bedeckten ihn. Der Wind pfiff durch die allmählich abfallenden Blätter des alten Kastanienbaums an der Ecke. Auf dem Friedhof standen fast überall Bäume. Thilo fand das auch viel schöner, als wenn im Sommer die Sonne auf die Gräber knallte. In der Hecke saß ein kleiner Vogel. Und oben flogen die großen Vögel. Und als Thilo die Vögel singen hörte, verabschiedete er sich von dem Grab seines Vaters.
Als er auf dem Rückweg durch den Kies ging und bei jedem seiner Schritte der Kies unter seinen Schuhen knirschte, ertönte auf einmal eine weiche, ihm bekannte Stimme:
„Thilo, du bist auch hier!“
Er drehte sich um und sah Linda auf dem Weg parallel zu ihm stehen.
„Ja.“ sagte er in einem gleichgültigen Tonfall und ging auf sie zu. „Warum bist du hier? Der Weg hier geht viel schneller.“ sagte er und zeigte hinter sich.
„Ich find den anderen aber schöner. Außerdem wollte ich mir den Friedhof hier noch mal genauer anschauen, weil wir ja jetzt längere Zeit nicht mehr hier sind.“
„Ich sag Mama, sie soll öfters mit uns hier hin fahren.“
„Ja.“ sagte Linda und schaute mit zugekniffenen Augen in Richtung Sonne. „Anton ist auch hier.“
„Wo?“
„Er müsste eigentlich bei Papas Grab sein… Gehen wir zusammen hin?“
„Okay.“
Anton hockte am Grab seines Vaters und trug nun eine Kappe. Entweder trug er eine, wenn seine Haare doof aussahen, wenn es kalt draußen war oder wenn er heulen wollte, ohne dass es jemand bemerkte.
Als er Linda und Thilo sah stand er auf. „Ihr seid auch hier?“
„Sieht wohl so aus, du Genie.“ antwortete Thilo. Linda lachte.
„Halt die Fresse.“ sagte Anton in seinem zickigen Tonfall. „Die blöde Kuh neben dir hat mich sicher nur verfolgt.“
„Stimmt nicht, du Affe.“
„Leute, wir stehen hier vor Papas Grab und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu beleidigen?!“ sagte Thilo und schüttelte demonstrierend den Kopf.
Verlegen sahen sich Linda und Anton an.
„Tut uns Leid, Papa.“ sagte Anton und starrte auf das Grab seines Vaters.
Jetzt standen sie in einer Reihe nebeneinander. Von links nach rechts der Größe nach geordnet: Thilo, Anton, Linda. Obwohl Linda vielleicht bald Anton einholen konnte, wenn er nicht endlich seinen Wachsschub bekam.
Und als Thilo sah, wie sich ein Sonnenstrahl durch die Blätter des Kastanienbaums auf den Grabstein seines Vaters einen Platz erkämpfte, wusste er, dass er sich richtig verabschiedet hatte.
wow...ich hab nur das ende gelesen und finds klasse. und das will bei mir was heißen. nicht, dass ich mir für mine meinung besondere Wichtigkeit heraußnehmen täte...egal.
dankeschön :)
es würde mich freuen, wenn du etwas mehr dazu schreiben könntest, wenn du willst....
hab gestern wieder ein stück geschrieben. bis jetzt habe ich leider nur Testleser, die sich entweder nicht mehr melden oder keine Zeit haben weiter zu lesen.
Deshalb wäre das natürlich nie riesen Motivation weiter zu schreiben.
lg, simon
es würde mich freuen, wenn du etwas mehr dazu schreiben könntest, wenn du willst....
hab gestern wieder ein stück geschrieben. bis jetzt habe ich leider nur Testleser, die sich entweder nicht mehr melden oder keine Zeit haben weiter zu lesen.
Deshalb wäre das natürlich nie riesen Motivation weiter zu schreiben.
lg, simon
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